Genealogie des Weltmarktes

Geschichte von unten: „Die vielköpfige Hydra“ erzählt den Beginn der Globalisierung anhand der Schicksale der Unterschichten

Die zweite Arbeit des Helden war, die Hydra zu erlegen… Diese, zu Argolis im Sumpfe von Lerna aufgewachsen, kam aufs Land heraus, zerriß die Herden und verwüstete das Feld. Dabei war sie unmäßig groß, eine Schlange mit neun Häuptern… Herakles ging unerschrocken ihr entgegen, packte sie kräftig und hielt sie fest. Nun fing er an, mit einem Sichelschwerte ihr die Köpfe abzuschlagen. Aber er konnte nicht zum Ziele kommen. War ein Haupt abgeschlagen, so wuchsen derer zwei hervor.
Gustav Schwab: Sagen des klassischen Altertums

Ein Mythos verleiht Flügel, setzt das eigene Handeln ins Recht, sichert moralisch ab – gerade wenn man Barbarisches tut. Warum sollten es die frühkapitalistischen Menschenschinder da anders halten? Und dennoch ist es bemerkenswert, wie stark sich gerade in der Anfangszeit des globalen Kapitalismus die Kolonialmächtigen, die ExpediteurInnen, SklavenhalterInnen etc. mit Herakles verglichen, ja identifizierten. Mit jenem griechischen Göttersohn, der Dank seiner Riesenkräfte unter anderem die vielköpfige Hydra, ein abscheuliches Ungeheuer, erschlug. Das Bild kam der Obrigkeit sehr entgegen, konnten sie doch alle, die sie in ihrer herkulischen Aufgabe respektive Ausbeutung behinderten, mit der schrecklichen Hydra gleichsetzen – ob sie nun einfach arm oder obdachlos die Straßen bevölkerten und durch die Lande zogen und nicht den Boden als Lebensgrundlage verlieren, verschifft und versklavt werden wollten. Die Hydra diente als Gegenbild für das vermeintlich heroische Unternehmen des Entrepreneurs. Und diese verdiente nun einmal nicht mehr als Feuer und Schwert.

Die US-amerikanischen Historiker Peter Lindbaugh und Marcus Rediker haben sich in ihrer Studie nun genau den Menschen und Kräften gewidmet, die der herrschende Zeitgeist als jene widerstreitende Hydra begriff. Ihre verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks legt Bewegungen offen, die sich dem kapitalistischen Zugriff entziehen wollten und vielleicht schon Formen des Klassenkampfes waren – Menschen verschiedener Herkünfte einte die Ablehnung von Ausbeutung und Ideen von Freiheit.

Die Autoren zeichnen vier historische Phasen der Entwicklung des atlantischen Kapitalismus nach: Es begann mit einer Welle von Enteignungen in England, später auch in Schottland und Irland. Die Allmende, das aus Wiesen, Weiden und Gewässern bestehende Gemeingut, wurde eingehegt und so der Nutzung durch alle entzogen. Diese Menschen wurden wegen lukrativem Weideland genauso von ihrer Lebensgrundlage vertrieben wie die indigenen Völker in den Kolonien. Die Versklavung erfolgte auf beiden Seiten des Atlantiks: Die Plantagenbesitzenden brauchten billigste Arbeitskräfte, die aus aller Herren Länder verschifft und versklavt wurden. Diese bildeten bald die Grundlage des neuen Wirtschaftens, dessen Ort die Plantage war. Der atlantische Handelsraum wurde ausgebaut und ausgeweitet, das Schiff war sein Vehikel. Auf dieses folgte die Fabrik als Symbol der Zeit. Zur Konsolidierung der Staaten und Bekämpfung der immer wieder auftretenden widerständigen Bewegungen bedienten sich die Herrschenden der Konzepte „Rasse“, „Nation“ und „Staatsbürger“: Die multiethnischen revolutionären Kräfte sollten derart gespalten werden. Nicht zuletzt kam der Terror zum Einsatz. Wer sich nicht fügte, wurde gemartert oder gleich hingerichtet. Auch das zeigen Linebaugh und Rediker deutlich: Die kapitalistische Wertschöpfung und der Galgen waren – und sind? – nicht zu trennen. Nur mit der Drohung des Todes waren ausreichend große Menschenmassen gefügig zu machen, ihre Arbeitskraft unter Wert zu verkaufen.

In einem Zeitraum von rund 250 Jahren hat sich das System entwickelt, das dem Weltgefüge noch heute seinen Namen gibt und als einzig mögliche Form des demokratischen Miteinanders gilt. Kann man über diese Interpretation der Gegenwart nur den Kopf schütteln, so ist die historische Verbindung von Kapitalismus und Ausbeutung offensichtlich. Und doch erschüttert das Ausmaß der Verbrechen, Unmenschlichkeit und Gewalt, die in der Aufzählung der Autoren erscheinen. Das sind keine Randerscheinungen, sondern systematische, will sagen systemische Notwendigkeiten. All diese Grausamkeiten lagen dem Prosperieren des Kapitalismus zugrunde. Sie waren geplant, von Anfang an basierte dieses Wirtschaftssystem auf Ausbeutung. So benannte der oft als Mitbegründer der modernen Wissenschaft gefeierte Francis Bacon – „Wissen ist Macht“ -, explizit Menschengruppen, die vom Erdboden getilgt werden sollten: amerikanische UreinwohnerInnen („Westinder“), Besitzlose („Kanaaniter“), PiratInnen, LandstreicherInnen, MeuchelmörderInnen, bewaffnete, oft Aufstände anführende Frauen („Amazonen“) und WiedertäuferInnen, die ein frühes Gespenst des Kommunismus waren.

Das Autorenteam zeigt aber auch die vielfachen Widerständigkeiten und Widerstände auf, die den selbsternannten Herkules nicht schalten und walten ließen. Seien es die Levellers und Diggers, die sich die Allmende zurückholten, oder jene Menschen, die sich der Arbeit entzogen, und geflüchtete SklavInnen, die in eigenen Gemeinschaften ein selbstbestimmtes Leben führten. Dazu zählen die Allianzen zwischen den Unterdrückten, den afrikanischen Sklaven und den europäischen Leibeigenen, die ihr Schicksal als ein gemeinsames begriffen. Und es findet sich auch Vieles darunter, was man später „direkte Aktion“ nennen wird – Brandstiftung, bewaffneter Aufstand und Revolte.

Diese vielen kleinen wie großen Widerständigkeiten zusammengetragen zu haben, ist die besondere Leistung der Autoren, die das weit Versprengte somit vielen LeserInnen zugänglich machen. Auch wenn sich die Autoren, was den europäischen Raum betrifft, zu sehr auf Großbritannien fixieren, so schmälert es die Wirkung dieser Genealogie des Weltmarktes nicht, welche die schmutzigen, brutalen und menschenverachtenden Wurzeln des bis heute erfolgreichen Wirtschaftssystems offen legt, das offiziell immer noch als alternativlos gilt.

Peter Linebaugh & Marcus Rediker: Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks
Assoziation A
Berlin & Hamburg – 2008
427 S. – 28 €
www.assoziation-a.de

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