Ruhe und Ordnung am Tag vor der Sprengung

Schon wieder fängt es an zu regnen, verfaulter Frühling, verhagelte Blüten, vermasselter Mai. Ich versuche den Schirm aus der Umhängetasche zu ziehen, doch ich werde von einem eisernen Ellbogen angestoßen, ich spüre jähen Schmerz in der Seite und taumele leicht, R. geht es ebenso, sie amüsiert sich aber noch etwas und schimpft halblaut vor sich hin. Links und rechts erkennt man jetzt Männer in grauen und schwarzen Lederjacken, die uns und die anderen Passanten an der Absperrung zu umklammern scheinen, hier direkt vor dem neuen Hotel Deutschland, es wundert mich wegen der Ausländer, die vielleicht alles mit ansehen könnten, oder sind sie für drei Tage ausquartiert worden? Die Männer drängen in breiter Phalanx, etwa acht bis zehn Mann nebeneinander, dann kommen weitere Reihen, machtvoll nach vorn und zwingen uns zu immer schnellerer Gangart. Ich kann eben noch drüben auf der anderen Seite des Platzes ein Stück von der abgesperrten Paulinerkirche erkennen, etwas von der neugotischen Fassade, die ich so liebe, wenn sie auch neugotisch ist, sie verschwimmt schon im Dunst und in der Dämmerung, es regnet stärker und stärker, wir werden bald völlig aus dem Blickfeld gedrängt und finden uns auf einmal jenseits des Karl-Marx-Platzes hinter dem Hochhaus der Versicherung wieder. Zurück geht es absolut nicht, alles wird hermetisch von diesen Männern in grauen und schwarzen Lederjacken abgeriegelt. Ich schlage R. vor, den eingezäunten Komplex von Universität und Kirche in einem weiten Bogen zu umgehen, um von der Seite des Zentrums wenn möglich wieder auf den Platz zu gelangen. Das kann allerdings ziemlich lange dauern. Wir wollen in diesen Tagen wenigstens noch Anwesenheit bekunden, auch wenn wir nichts mehr gegen die sinnlose, zynische Sprengung der Gebäude tun können, nachdem fast jeglicher Widerstand in der Stadt aufgegeben ist und der Gestank der Feigheit aus den Kanaldeckeln quillt, der auch unsere Schritte zu lähmen beginnt. Luther und Leibniz sollen jetzt endgültig vom Platz vertrieben werden, eine Schande für immer und ewig. Es stehen noch ein paar hundert Menschen auf dem Platz, auf der Opernseite, wo man nichts absperren konnte, weil die Oper weiterspielen muß, da herrscht ziemliches Gedränge. Wir kommen aus der Theaterpassage über die Goethestraße und stellen uns zu den anderen vor die Stufen, wo vereinzelte Protestrufe zu vernehmen sind. Ein Streifenwagen und drei, vier Polizisten sind zu erkennen, da, wo ein paar Quadratmeter des Platzes freigeblieben oder gewaltsam geräumt worden sind, die Leute stehen schweigend im Kreis herum. Sie warten einfach, sehen vor sich hin. Wir drängen uns ein Stück nach vorn und erblicken einen jungen Mann, noch keine achtzehn Jahre alt, er hat gerade etwas verächtlich Klingendes gerufen, und die Polizisten und ein paar Männer in grauen Lederjacken versuchen ihn festzuhalten. Er kann sich losreißen, ein paar Meter entwischen, er versucht in der Menge unterzutauchen, aber er kommt einfach nicht schnell genug durch. Und auf einmal fährt der Streifenwagen an, die Leute weichen zur Seite aus, er beschreibt eine jähe Kurve, erstaunlich geschickt ist der Fahrer, er stoppt einen knappen Meter vor dem Jugendlichen, zwei Polizisten springen heraus, andere in Zivil sind zur Stelle, sie packen ihn brutal an den Armen, geben ihm einen harten Stoß in die Seite und wollen ihn in den Wagen zerren. Bevor dies gelingt, rufen ein paar Leute aus der schweigenden Masse heraus „Ihr Schweine“, „Gemeinheit“ und „Laßt ihn in Ruhe“. Wir schreien mit, aber die Staatsmacht kümmert sich nicht im geringsten um uns, der Streifenwagen fährt schonungslos zwischen uns durch, Schmutzwasser spritzt aus den Pfützen, alles ist schon egal, wir werden durch Megaphon aufgefordert, den Karl-Marx-Platz umgehend zu räumen.

19. Juni 1997

Roland Erb im Verband deutscher Schriftsteller in Sachsen

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