Das Brot in den Trümmern

Das Brot in den Trümmern ist eine alte Geschichte, die ich mir lange aufgespart habe, weil ich sie nie ganz verstanden habe. Ich hab sie von meinem Freund gehört, meinem Freund Gerhard S. aus der Grundschulklasse. Wir wuchsen in einer kleinen Stadt auf, die in der Mitte völlig zerstört war, da gab es schrecklich viel Unkraut auf den flüchtig eingeebneten Ruinenfeldern und fast keine Häuser mehr. Man konnte sich gut verstecken in den Unkrautbüschen. Es gab auch allerhand nicht völlig zugeschüttete Keller dort, wo manchmal noch Bomben, Blindgänger, gefunden wurden, da richteten sich die Schuljungen ihre „Buden“ ein, jede Bande hatte so eine Bude, die wurde mit Kerzenstummeln beleuchtet, und man saß auf bemoosten Ziegelsteinen. So war man den ganzen Nachmittag der strengen Kontrolle von Eltern und Lehrern entkommen. Oben begannen im Lauf der Zeit Büsche und Bäume zu wachsen, vor allem aber der verteufelte Spanische Pfeffer. Ein schreckliches Zeug, das sich in schwindelerregendem Tempo vermehrte und ausbreitete. Wer dort im Trümmergelände noch einen eigenen Garten hatte, der mußte bald einen ohnmächtigen Kampf führen gegen den sturen Spanischen Pfeffer. Doch das nur am Rande bemerkt.

Dann kam ein Arzt aus dem Krieg zurück in die Stadt, er kam aus der Kriegsgefangenschaft in Rußland, so um Weihnachten ’49. Zu seiner Familie mit der Großmutter, der Mutter und den zwei Söhnen, und machte bald eine Arztpraxis auf, das war gut für die Stadt, solange es staatlicherseits erlaubt war, eine Praxis zu haben, denn es gab wegen des Krieges und der schlechten Zeit danach nur noch ganze vier Ärzte in der Stadt. Es war nun allerdings so, daß der Arzt in der Gefangenschaft ziemlich hart arbeiten mußte, Baumstämme schleppen und Bahnschienen verlegen, und daß er dort immer nur dünne Suppen bekam, so daß er ganz abgemagert aus der Gefangenschaft wiedergekommen war. Die Kinder waren auch ziemlich ausgemergelt, weil die Eßwaren damals sehr knapp waren und es überhaupt nichts Rechtes zu kaufen gab. Der Arzt fängt nun wie verrückt zu arbeiten an, und bald wird er beim Gesundheitsamt angestellt und jagt mit einem alten klapprigen Opel P4 durch die Trümmerstadt und arbeitet an vier, fünf Stellen zur gleichen Zeit. Am Abend, zu Hause, ist er völlig erschöpft, er ist streng und hart zu seinen Kindern, die zittern fast immer vor Angst, weil er sie anschnauzt und ohrfeigt und am Anfang sogar regelmäßig den Riemen genommen und sie verprügelt hat. Er sorgt aber dafür, daß die Kinder tüchtig zu essen kriegen, er selbst ißt ja schließlich auch, weil er jetzt gut verdient, und die Frau und die Großmutter können auch essen, er kocht sogar manchmal für alle zusammen und schmiert immer dicke Stullen für seine Söhne, die müssen sie mit in die Schule nehmen und in der großen Pause essen. Wie mir mein Freund Gerhard S. erzählt hat, sind es schöne, mit Wurst und Käse belegte Schulschnitten gewesen, wunderbar eingeschlagen in weißes Frühstückspapier. Das geht eine Weile ganz gut, die Söhne essen fleißig und nehmen auch etwas zu. Aber ihr Vater ist unerhört hart und streng, er schimpft und schlägt sie manchmal, doch gibt er jedem immer zwei bis drei herrlich belegte Frühstücksstullen mit. Die Schule ist hart und streng. Die Lehrer waren ja damals schrecklich autoritär. Die Schulstunden wurden oft durch den hauseigenen Schulfunk gestört. Mitten in die spannendste Mathestunde oder ins friedlichste Schönschreiben platzte dann das Trommelsignal des Lautsprechers oben an der Seitenwand der Klasse, und es folgte eine harte, strenge Meldung oder eine bedrohliche Ansprache des Schuldirektors. Es war immer noch gut, wenn er nicht selbst in die Klasse kam und mit uns das fünfminütige Aufstehen-Setzen-Aufstehen-Setzen durchexerzierte. Eines Tages verkündete der Direktor mit belegter Stimme durch seinen Lautsprecher, daß „unser weiser, gütiger Vater, der Führer der Sowjetunion und das Vorbild aller fortschrittlichen Menschen der Welt, unser Genosse Iossif Wissarionowitsch Stalin“ gestorben sei. Da standen mir plötzlich Tränen in den Augen, doch ich traute mich nicht, richtig zu weinen.

Leider bin ich wieder etwas vom Thema abgeschweift, deshalb will ich mich kurz fassen. Die Söhne des Arztes, von denen wir gesprochen haben, entwickelten sich offenbar doch nicht so gut, wie es zu erwarten war, hat mir mein Freund Gerhard S. erzählt. Der Arzt arbeitete wirklich vorbildlich, allerdings war er etwas zu streng zu seinen Söhnen, sie sollten hart arbeiten in der Schule und zu Hause, sie sollten nicht reden bei Tisch, aber sie sollten tüchtig essen. Mein Freund Gerhard S. hat mir damals gestanden, daß er selbst fast immer entsetzlichen Hunger litt. Von zu Hause bekam er so gut wie nichts mit, weil sein Vater gefallen war und die Mutter nur eine Aushilfsstelle hatte, sein kleines Taschengeld reichte nicht aus, sich in der Pause ein oder zwei dunkle Brötchen zu kaufen. Da gab ich ihm manchmal eine dünne Frühstücksschnitte von mir ab. Auf dem Heimweg durch die zerstörte Oberstadt mit ihren weiten Trümmerfeldern gingen wir stets an einem großen Wald von Spanischem Pfeffer vorbei, der war an dieser Stelle gut zwei bis drei Meter hoch, es sah sehr geheimnisvoll einladend aus, aber wir trauten uns nicht hinein, weil dort die Bande einer höheren Klasse ihre Kellerbude besaß und jeder Eindringling windelweich geprügelt wurde. Eines Tages war Gerhard S. dort trotzdem ein paar Schritt eingedrungen, weil er zwischen den dicken grünen Stämmen des Spanischen Pfeffers zwei weiße Frühstückspäckchen liegen sah, und er erzählte mir, die Brote wären noch ganz frisch gewesen. Ein paar Tage später beobachtete er, daß die Söhne des Arztes auf ihrem Nachhauseweg ihre Schulschnitten dorthin warfen, wenn niemand in der Nähe war. Den Jüngeren hat er noch mehrmals gesehen, wie er sein Brot in die Trümmer warf. Das haben wir nicht begriffen. Doch andererseits fand Gerhard S. die Sache gar nicht so übel und sprach nicht weiter davon.

29. Mai 1997

Roland Erb im Verband deutscher Schriftsteller in Sachsen

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