Fabio Luisi dirigiert Franz Lehárs Operette im Gewandhaus
Die konzertante Aufführung einer Operette kann diese zweifellos adeln. Aber kann sie auch aus dem in die Jahre gekommenen Gesamtkunstwerk der Unterhaltungskultur eine musikalische l’Art pour l’Art machen? Kann sie herausfinden, ob in der von szenischer Spaßigkeit und plüschiger Ausstattung entkleideten „Lustigen Witwe“ ein Herz aus reiner Musik schlägt? Dies zu versuchen, wäre für einen so profilierten Dirigenten wie Fabio Luisi keineswegs ungewöhnlich und so ließ sich durchaus auch ohne Szenerie eine Art musikalisches Regietheater erwarten. Doch wahre Künstler sind für gewöhnlich nicht so leicht berechenbar, und so wurden derartige Erwartungen auf angenehme Weise enttäuscht.
Jenseits jeglicher Verfremdung klingt es vom ersten Takt an, wie Operette im Idealfall überhaupt klingen kann: forsch, aber glasklar, präzise, aber immer mit einer kleinen Spur Ironie. Dabei bedeutet Ironie hier keineswegs, dass sich über diese Art von Kunst lustig gemacht werden sollte. Eher ist damit gemeint, dass die Interpreten (und das gilt neben Luisi auch für die ungemein einnehmenden Hauptdarsteller Dagmar Schellenberger und Johannes Martin Kränzle) gegenüber der Musik stets souverän bleiben. Immer steht es in ihrer Macht, zu verzögern oder zu beschleunigen, kleine Zäsuren anzubringen oder kurz innezuhalten, um ganz gezielt bestimmte Wirkungen hervorzurufen.
Darin unterscheidet sich eben die Operette von der Oper. Es gibt neben der individuellen Gestaltung keine rein musikalischen, harmonischen oder melodischen, Ereignisse, die sich so verselbständigen und schicksalshaft zusammenballen würden, dass ihnen der Einzelne – als Sänger, als Interpret – machtlos ausgeliefert wäre. Diese Art von ?Hingebung? ist in diesem Genre wohl generell undenkbar. Hier bleibt es dem Interpreten anheimgestellt, die Macht der Musik zu dosieren. An keiner Stelle muss er die Fäden aus der Hand geben und einem höheren, überindividuellen und daher rein musikalische Prinzip überlassen. Charakter und Individualität des Komponisten dominieren nicht über die des Interpreten.
Wer sich also gewundert haben mag, dass Luisi durch freche Tempi, rhythmische Straffungen und dynamische Extreme schon manch große Sinfonie aufgewühlt und gegen den Strich gebürstet hat, aber ausgerechnet in einer Operette sich offenbar ganz wie zu Hause bewegt, findet hier die Antwort. Gerade einem starken Charakter wie Luisi kommt das Genre Operette offensichtlich insofern entgegen, als hier gestalterische Freiheiten für die Form eher dienstbar als innovativ sind.
Damit ist natürlich auch die Suche nach dem Kern absoluter Musik im Innern der „Lustigen Witwe“ ad absurdum geführt. Die Präsenz der Musiker auf der Bühne gibt zwar der Musik mehr Gewicht, als wenn diese sich erst aus dem Orchestergrab(en) heraufkämpfen muss. Doch ansonsten reichen einige hausbackene szenische Andeutungen vollkommen aus, das Fehlen einer sich nun als tatsächlich überflüssig erweisenden Dekoration völlig vergessen zu machen. Der inszenierte Kreisverkehr der auf der einen Seite abgehenden, auf der anderen wiederkommenden und mitunter auch mal oben auftauchenden Akteure verfehlt seine Wirkung nicht, zumal wenn noch ab und zu ein Tänzchen im zwei Fuß breiten Raum zwischen Konzertmeister und Zuschauern erlaubt ist. Und wie diese Aufführung die Zuschauer im fast vollen Haus in den Bann zieht, macht deutlich, wie stark allein schon die Musik das Bühnengeschehen plastisch hervortreten lässt. Darin zeigt sich Lehár eben als ein wahrer Meister seines Fachs. Und das ist es, was dieses Werk und diese Aufführung adelt.
Franz Lehár: „Die lustige Witwe“
Operette in drei Akten
Libretto von Victor Léon und Leo Stein – Konzertante Aufführung
2. MDR-Feiertagskonzert mit dem MDR Sinfonieorchester, MDR Chor, Fabio Luisi (Dirigent)
Solisten:
Dagmar Schellenberger, Sopran (Hanna Glawari)
Johannes Martin Kränzle, Bariton (Graf Danilo Danilowitsch)
Uta Schwabe, Sopran (Valencienne)
Herwig Pecoraro, Tenor (Camille de Rosillon)
Michael Nowak, Tenor (Vicomte Cascada)
Christian Bauer, Tenor (Raoul de St. Brioche)
Roland Schubert, Bassbariton (Baron Mirko Zeta)
Tom Pauls, Sprecher (Njegus)
1. Januar 2001, Großer Saal des Gewandhauses
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