Wann fängt das neue Jahrhundert an?

Die musikalische Jahrhundertwende vor 200 Jahren

Jetzt plötzlich wollen es alle schon immer gewusst haben: das neue Jahrtausend ist erst mit diesem Jahr eröffnet worden. Dabei ist die Erinnerung noch ganz frisch, wie vor einem Jahr fast die ganze Welt der Magie eines vierfachen Ziffernwechsels erlag. Sei es, wie es sei; jedenfalls hat das stille Vorrücken der Eins in diesem Jahr zweifellos nicht dieselbe Faszination ausgeübt wie der kollektive Zahlenaustausch zu Beginn des vergangenen.

Nun ist es interessant zu sehen, dass auch vor 200 Jahren die Menschen sich über genau dasselbe Problem den Kopf zerbrochen haben. Am 18. September 1799 erschien im vorletzten Heft des ersten Jahrgangs der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung gleich als Titelstory ein Artikel zum Thema: Wann fängt das XIX. Jahrhundert an?

Und dass früher die Regeln der Zeitenzählung nicht weniger heiß diskutiert wurden als heute, beweisen gleich die ersten Sätze: „Wundern Sie sich nicht zu früh, meine Leser und Leserinnen, dass ich eine Streitsache, worüber seit einiger Zeit so vieles, von Männern aus allen Fakultäten, vor dem Publikum ist räsonnirt und deräsonnirt worden, nun gar noch in die „musikalische Zeitung“ bringe.“

Doch der nur mit der Chiffre „D. Wr.“ unterschreibende Autor hat seinen Grund, dieses Problem in einer Musikzeitschrift abzuhandeln, denn er wird es auf musikalische Weise lösen! Doch dazu möchte es zuvor noch einmal kurz dargelegt werden: „Die Meynungen sind also, wie bereits bemerkt worden, über die Frage: wann das XIX. Jahrhundert anfängt, getheilt. Ein Theil der Disputirenden behauptet, Christus habe erst ein Jahr alt seyn müssen, ehe man 1 habe sagen können; diese zählen also 0-1. Es stüzt sich diese Behauptung auf keinen wahren Grund, wenn wir nicht den Tag, an welchem Christus gebohren ist, nach einer andern Zeitrechnung angeben können; denn bekanntlich verrechnen wir uns in der christlichen Zeitrechnung um Jahre und Tage, worüber wir lieber schweigen wollen, um nicht neuen Streit, Zweifel und Jubiläumsaufenthalt zu verursachen. – Andere streiten dagegen, weil man nie mit Null, sondern jedesmal mit Eins zu zählen anfängt…“

Aber nun hat aller Streit ein Ende, denn die Musik im Allgemeinen und ein Kanon im Besonderen bringen die endgültige Lösung des Rätsels mit sich: „Hat nun einer in einem Musikstücke 12 Takte zu pausiren, so fängt er – wie jeder Musiker weiss – gleich beym Niederschlagen des ersten Takts 1 zu zählen an; sagt er endlich 12, so muss er noch den ganzen 12ten Takt schweigen, und fängt erst mit 13 zu spielen an

(siehe Beispiel 1).

B hat vier Takte zu pausiren, und fängt erst dann zu singen an, wenn er 5 sagt; C hat 8 Takte zu pausiren und fängt erst mit 9 an; D hat 12 Takte, muss also, wenn er 12 sagt, erst den ganzen 12ten Takt abwarten, und fängt dann mit dem 13ten zu singen an. – Hätte nun einer 1800 Takte zu pausiren, wovon jeder Takt ein Jahr dauerte, so würde er, wenn nicht der böse Sensenmann dem Zählen oder Pausiren ein Ende machte, auf jeden Fall nicht mit dem 1800sten, sondern mit dem 1801sten zu spielen anfangen.
Ich bin also des unmassgeblichen und unvorgreiflichen Dafürhaltens, dass gerade so, wie der Musiker den 13ten Takt noch nicht erreicht hat, wenn er an den Virteln und Achteln des 12ten Takts noch zählen muss: eben so nimmt, besage dieses meines unumstösslichen Arguments, das XIX. Jahrhundert nicht mit 1800, sondern mit 1801 erst seinen Anfang.

Die Herren Jubiläumssinfonienkomponisten werden nun auch den Vortheil erhalten, dass sie Zeit gewinnen und sich nicht übereilen dürfen, um das liebe Publikum mit Jubiläumsspektakels zu amüsiren.“

Diese Argumentation, die schön und dennoch wahr ist, wird aber mit einem Male durch einen ganz tückischen Gedanken in Frage gestellt: ?Plötzlich und wie durch einen elektrischen Schlag erschüttert war mein schönes Gebäude; mein herrliches, in seiner Art (wie ich wähnte) einziges und unumstössliches Argument, zusammen geworfen. Dies kam also und folgendergestalt: Einige meiner Freunde überraschten mich mit einer Gratulation (es war mein Geburtstag) als ich eben die Feder niederlegen will – Wie? dachte ich und behielt die Feder in der Hand; heute mein Geburtstag? Ich bin heute Nachts 12 1/2 Uhr 28 Jahre alt geworden, und mein 29stes beginnt? – O weh, mein armes Argument! In der Nacht des künftigen 31. Decembers 12 Uhr ist das Jahr 1799 vollendet und das Jahr 1800 wird, wenn ich mich so ausdrücken darf, in demselben Augenblicke gebohren: es ist sein Geburtstag, seine Geburtsnacht, sein Geburtsaugenblick; das Jahr 1800 ist da, nimmt seinen Anfang, und stirbt am 31. December 1800 in der Nacht 12 Uhr, in dem Augenblicke, wenn das Jahr 1801 zu leben beginnt u.s.w. – Wie siehts denn mit meinem musikalischen Argumente nun aus? Lass sehen!

(siehe Beispiel 2 und 3)

Unser armer verwirrter Autor hat mit diesem zweiten Kanon noch einmal deutlich gemacht, worin der wesentliche Unterschied zwischen der Zeitrechnung und der Geburtstagszählung liegt. In jener zählen wir die erst beginnenden bzw. laufenden Jahre, in dieser aber die vollendeten Lebensjahre. Daher wurde in den Silvesternächten der Jahre 1800 bzw. 2000 eben nicht die Vollendung, sondern deren Beginn gefeiert.

Aber dass eine solche Verwechslung auch ihre guten Seiten haben kann, beweisen die Schluss-Sätze des Autors, mit denen er versucht, seinen Überlegungen doch wenigstens noch einen praktischen Sinn abzugewinnen: „Was nun jene Streitsache anlangt, so hätte ich also nichts entschieden, und kein Mensch dankte mir für meine Mühe, und den Redakteuren der musikalischen Zeitung für die Aufnahme dieses Aufsatzes? Doch ja – Sie meine Herren Jubiläumskomponisten werden es uns Dank wissen; denn gerade weil wir über den Hauptpunkt nicht einig werden, können Sie beyde Meynungen annehmen, und so zweymal von der Veranlassung, Gelegenheitssächelchen aufzutischen, profitieren – was Sie ja nur einmal gekonnt hätten, wenn der Streit entschieden worden wäre.“

Doch wer nun glaubt, diese Art Unentschiedenheit hätte die Sache entschieden, hat weit gefehlt. Gleich im ersten Heft des neuen Jahres vom 1. Januar 1800 veröffentlicht die nämliche Allgemeine Musikalische Zeitung in Leipzig den Brief eines energischen Herrn aus Wien vom 21. Dezember 1799. Dort wird das besagt Problem noch einmal auf Biegen und Brechen richtiggestellt, wobei sich der Unterzeichner „Fr.“ ebenfalls nicht scheut, seine Ansichten durch einen Kanon zu untermauern:
„Meine Herren!

Im 51sten Stück des ersten Jahrgangs Ihrer Zeitung hat Wr. durch einen Canon beweisen wollen, dass das neunzehnte Jahrhundert erst mit dem ersten Januar 1801. anfange, aber am Ende ists ihm wie den gelehrten Herren gegangen, die darüber gestritten haben: er hat es unentschieden gelassen. Erlauben Sie, dass ich ebenfalls durch einen vierstimmigen Canon den Zwist entscheide:

(siehe Beispiel 4 und 5)

Oefter als zwölfmal erlaube ich diesen Canon nicht zu singen, denn wenn der erste Sänger den Canon wieder anfängt, muss er singen: Ein anders ists das zweyte Jahr, ein anders ists zwey Jahr, und so weiter bis auf zwölf. Wer es aber mit zwölfmal nicht versteht, dem kann ich nicht helfen, da ich fordre, dass ers wenigstens beym sechstenmal verstehe, damit er bey: siebente und sieben, nicht siebente und sieben singen muss.

Der Streit entsteht daher, weil der Sprachgebrauch, oder vielmehr die Bequemlichkeit im Sprechen eingeführt hat, mit Grundzahlen zu reden, wo man Ordnungszahlen brauchen sollte. Anno eins heisst nichts anders, als im ersten Jahr. Den Augenblick, als der Mensch ins 25ste Jahr tritt, zählt er erst volle 24 Jahr. Den Augenblick, wenn den 31sten December 1800., Nachts um 12 Uhr, 1800 Jahre voll sind, fangen wir mit dem ersten Jänner 1801 das neunzehnte Jahrhundert an…“

Da haben wirs. Die Ursache der Verwechslung geht auf die Verwechslung von Ordnungs- und Grundzahlen zurück. So wie wir bereits unsern 29. Geburtstag erleben, wenn wir feiern, dass wir 28 geworden sind, müssen wir bereits das 1801. bzw. 2001. Jahr begonnen haben, bevor wir feiern können, dass 1800 bzw. 2000 Jahre vollendet sind.

Aber um nun den trockenen Zahlenklaubereien zu entfliehen, schauen wir doch einmal, wie es inmitten der verflixten Zählereien in der Praxis aussah. Wann hat man denn damals die Jahrhundertwende gefeiert? Man höre und staune, das Leipziger Gewandhaus beging seine Jahrhundertfeier doch tatsächlich korrekt am 01.01.01 (also 1801) und auch darüber sind interessante Dokumente erhalten geblieben.

Ein Programmzettel, der im Stadtgeschichtlichen Museum von Leipzig aufbewahrt wird, berichtet über das Programm vom „12. Concert“ der Saison 1800/1801 am 1. Januar 1801, wobei es das Schicksals gut mit dem Gewandhaus meinte, als es dieses Datum genau auf einen Donnerstag fallen ließ, den bis heute traditionellen Konzerttag des Orchesters.

Der erste Teil brachte eine Sinfonie von Haydn und den 103. Psalm des damals hochgeschätzten Komponisten Johann Gottlieb Naumann. Im zweiten Teil erklangen eine Sinfonie von Mozart, der „Ambrosianische Lobgesang“ (Te Deum) von Altmeister Johann Adolf Hasse und ein „Chor“ von Johann Gottfried Schicht, dem amtierenden Gewandhauskapellmeister. Das Ganze endete dann mit einer „Schlusssinfonie“, hinter der sich vermutlich ein Finalsatz der oben genannten Sinfonien verbarg.

Bei diesem Konzert waren nicht weniger als 1100 Personen anwesend, die neben der Musik auch Malereien bewundern durften, die anlässlich des Jahreswechsels von dem Direktor der Zeichenakademie Friedrich August Tischbein entworfen und von einem gewissen Hans Veit Schnorr von Carolsfeld ausgeführt worden waren. Eine handschriftliche Notiz auf dem Programmzettel führt uns die Situation noch einmal vor Augen:

„Dieses transparente allegorische Gemählde, von Herrn Director Tischbein entworfen und von Herrn Schnorr ausgeführt, war den 1. Januar 1801. im Concert-Saale auf dem Leipziger Gewandhause ausgestellt. Es befand sich hinter dem Orchester – nahm dessen ganze Breite ein und reichte hinauf bis an das Gesimse der Decke. Bis zum Anfange des Concerts war das Ganze mit einem Vorhange – worauf nichts weiter als leichte Wölkchen gemalt waren – verdeckt; dieser Vorhang war ebenfalls, jedoch nur ganz schwach, transparent. Kurz vor dem Anfange der Sinfonie, flogen diese Wolken unter Trompeten und Paukenschall schnell in die Höhe, und das nun, durch sein strahlendes Licht dastehende Gemählde, welches durch die Größe der Figuren, von allem Kleinlichen entfernt war – gewährte einen überaus schönen Anblick.

Auf dem mittleren Felde welches die Pyramide bildete, befand sich oben noch die Büste des regierenden Churfürsten von Sachsen Friedrich August als Medaillon in grün gemalet, und unter derselben die Inschrift:

Heil dem weisesten, gerechtesten Fürsten, Heil ihm und Danck, Liebe und Treue.“

Was es mit dem allegorischen Gehalt dieser Bilder genauer auf sich hatte, war auf einem offenbar dem Programmzettel zugehörigen Beiblatt zu lesen:

„Sinn der allegorischen Darstellung:

Die Pyramide in der Mitte, ein Denkmal der dankbaren Gefühle, Gelübde und Wünsche des unter dem Schutz seines weisen Fürsten glücklichen Volks. Vor derselben Janus, zwischen zwey chronischen Denksteinen, deren einen er mit der rechten enthüllt, indessen seine Linke über den andern einen grauen Schleyer niedersenkt.

Die Zahl 1801 in goldenen Lettern auf dem ersten, und die Blumenkette, mit welcher derselbe umwunden ist, sind von guter Vorbedeutung. Von den Zahlen 1, 8, 0, 0 auf dem zweiten sind nur die lezten noch sichtbar. Diese sind schwarz, und, anstatt mit Blumen, ist der Stein mit Cypressen umschlungen. Janus scheint die Trauer des letzten Jahrzehents der Erinnerung so lange vorenthalten zu wollen, bis wir fähiger seyn werden, den Zweck des Schicksal einzusehen.

Ihm zur Linken steht, traurig hingesenkt an den Altar der Hofnung, Europa. In banger Erwartung blickt sie hin, in die stürmende See. Jede Veränderung im furchtbaren Kampf der Elemente, hat bisher schon oft sie schmerzlich getäuscht. So scharf ihr Blick aber forschet, ist nirgends noch Licht, als schreckhafte Blitze.

Ihr gegenüber, jenseits der Pyramide, zwischen den sich verteilenden schwarzen Wolken, dort noch schimmert freundliches Blau. Heller ist der Horizont. Gleichsam durch einen Felsendamm abgesondert vom stürmenden Weltmeer, spielen hier ruhig die Wellen. In der ferne ist ein blumenbekränztes Schiff. Was sollte es anders bringen, als fröhliche Botschaft? Es scheinen dies wenigstens zu sagen die herbeyflatternden Knaben. Mit fröhlichen Gebehrden lenken sie unsere Blicke dahin. Wohlgemutheter senken einige sich schon herab, zu der sich hier noch feststehenden Ära der Wohlfahrt. Diese leichtbeflügelten Boten sind die gaukelnden Wünsche der Guten.

Zwischen Palmen aufgefangen stehet dieses Gemählde der Phantasie vor uns, ein schöner Traum. Möge sehnlichgehoffte Wirklichkeit bald an dessen Stelle stehen. Die Palmen, heute nur noch ein erfreuendes Sinnbild, mögen sie bald ein immergrünendes Denkmal seyn, des allbeglückenden Friedens!“


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