Friedrich Hebbel „Die Nibelungen. Ein deutsches Trauerspiel” (Marcus Erb-Szymanski)

27. Januar 2001 – Premiere, Schauspielhaus Leipzig


Friedrich Hebbel:
?Die Nibelungen. Ein deutsches Trauerspiel in drei Abteilungen?


Regie: Alexander Lang

Mitwirkende: sie unten

Blutleere Metzeleien im Rezitationstheater

Alexander Langs Sicht auf Hebbels ?Nibelungen?

Irgendwo, im hohen Norden, wo Farbigkeit in der Natur nicht auf Blumen, sondern auf Edelsteine zurückzuführen ist, irgendwo, auf einer Burg, auf einem Berg inmitten eines Meers von Feuer, irgendwo, wohin nur ein Einziger auf der Welt den Weg kennt, harrt das Überweib der Stunde ihres Erwachens. Brunhild ist nicht nur das Urbild einer ?Eisernen Lady?, einer Isolde, einer Frau, für die das Wort ?Amazone? eine Verniedlichung bedeutet, sondern auch mit übernatürlichen Kräften versehen, die ihr eine höhere Daseinsform verheißen: unendliche Weisheit, unbegrenzte Macht und ewige Jugend.

Als Göttin in spe ist sie vom Schicksal erwählt, muss dafür aber auch ihre Verehrer mit tödlichem Ernst abweisen und ihre Jungfräulichkeit solange verteidigen, bis der erscheint, der ihr erkoren ist, der sie besiegt und ihr den Nibelungenhort als Sinnbild der Allmächtigkeit zum Brautgeschenk macht. Bis dahin ist sie eine Männerverschlingerin im wahrsten Sinne des Worts, eine Frau, die es auf fatale Weise wörtlich nimmt, den Männern das Herz zu brechen, ehe sie in der Ehe in die Pflicht genommen wird.

Dann kommt er: Siegfried. Ebenfalls ein Übermensch, ein Held der alten Zeit, gestählt im Kampf mit Lindwürmern, Riesen und Zwergen und im ?Isenland? durchaus nicht fremd. Er kommt nicht laut und verwegen, nicht triumphal und siegreich, wie sein Name es verspricht, sondern heimlich still und leise. Denn er kauft die Katze nicht im Sack, will sich die Frau seiner vom Schicksal verordneten Träume erst anschauen; und es geschieht das Unfassbare: In dem Moment, wo das Flammenmeer versiegt, als Omen für die Ankunft des Erwählten, winkt dieser dankend ab. Sie gefällt ihm nicht!!! Und weil er gottlob die Tarnkappe trägt, kommt er nicht in Verlegenheit, sich entschuldigen zu müssen: ?Denn Brunhild rührte … in aller ihrer Schönheit nicht mein Herz, und wer da fühlt, dass er nicht werben kann, der grüßt auch nicht.?

Siegfried demütigt das Schicksal, indem er dessen Fügung wie die nicht in Anspruch genommene Dienstleistung einer Partnervermittlung herabwürdigt. Damit beschwört er den Zorn der alten Götter herauf, die, durch die neue Religion des Christentums in die Hölle verbannt, weiter ihre Opfer verlangen und ?noch immer fluchen, wenn auch nicht mehr segnen?. Der Fluch der untergehenden Götterwelt wirft seine Schatten nun auf das neue Paar: Siegfried und Kriemhild. Diese durch jenen frei nach dem Herzen gewählt, wodurch Siegfried die Göttlichkeit in Gestalt seiner Unsterblichkeit verliert. Denn wie so manche Frau in der Geschichte dem Manne nicht Rippe, sondern Achillesferse ist, ist sie auch diesmal die undichte Stelle seiner Unversehrbarkeit, indem sie Hagen die Blöße in der Drachenhaut des Recken preisgibt.

Damit ist die erste dramatische Grundkonstellationen skizziert, auf die sich Hebbel in seiner Version des Nibelungenlieds konzentriert hat. Die unvermeidbare Dramatik von Dreieckskonstellationen (Siegfried, Kriemhild, Brunhild/Siegfried, Gunther, Brunhild) offenbart das Aufeinanderprallen der alten und der neuen Welt, der alten und der neuen Religion, der alten und der neuen Moral. Ein neues Freiheitsbewusstsein des Einzelnen trotzt dem Schicksal, dem Recht und der Ordnung, was sich am Ende auf grausame Weise rächt. Das gilt neben Siegfried auch für Kriemhild und Hagen. Dieser wehrt sich gegen seine Verurteilung als Mörder, jene tritt das heilige Gastrecht der Hunnen mit Füßen. Und alle überantworten sich schließlich dem Blutrecht der Rache: Siegfried wird gemeuchelt, Hagen gemetzelt und Kriemhild erschlagen. Am Ende, wenn dann wirklich alle tot sind, erhält Dietrich von Bern, als Held des christlichen Neuanfangs, die Krone aus Etzels (Attilas) Händen. Die alte, mythologische, Welt ist endgültig durch die neue, christliche, überlebt.

Die Schwierigkeit, ein solches Stück auf die Bühne zu hieven, beginnt schon mit der Textfassung. Um die in zumutbare Dimensionen zu bringen, sind Streichungen unumgänglich. Wenn Regisseur Alexander Lang jedoch den ganzen ersten Teil der zweiten Abteilung opfert, in dem Brunhild ihre Verheißung offenbart wird, sägt er ab, was den Konflikt trägt. Denn nun weiß niemand, dass Siegfried Brunhild nicht nur verschmäht, sondern auch um ihre Zukunft gebracht hat. Zwar reicht Lang die entscheidende Stelle am Ende dieser Abteilung noch reumütig nach, aber dann ist die zentrale Szene vorüber: der Streit um die Vorherrschaft zwischen Kriemhild und Brunhild, der damit endet, dass Brunhild durch die Aufklärung dessen, was vorgefallen ist, nicht nur gedemütigt, sondern regelrecht vernichtet wird. Dies erlebt man in der Leipziger Inszenierung lediglich als eifersüchtige Zänkerei. Und hinterher mag man nicht mehr glauben, dass Brunhild zu Höherem bestimmt war, als nur den stärksten Mann der Welt zu heiraten; und auch nicht, dass Brunhild nicht um Siegfried, sondern um ihre vorbestimmte und dennoch nun unerfüllbare Zukunft trauert.

Aber das ist Programm bei Lang. Heut glaubt man nicht mehr an die Heroen und mag sie auch nicht besonders. Das rechtfertigt bedingte Textveränderungen, -streichungen wie auch -verfälschungen, verkennt allerdings, dass auch die interpretatorische Umgestaltung eines Kunstwerks die Kenntnis des Originals voraussetzt, und die ist bei Hebbel im Normalfall nicht gegeben. Das Publikum läuft folglich Gefahr, eine bewußt verdünnte und veränderte Fassung nichts als Interpretation, sondern überhaupt nicht zu begreifen.

Dazu folgende weitere Beispiele: Da neben anderen die Rolle des Hildebrant am Hofe Etzels wegrationalisiert wurde, lässt Lang hie und da Worte dieser Figur mit einstreuen, von anderen wie von einem Medium gesprochen. So fährt Markgraf Rüdeger im denkbar ungünstigsten Augenblick Kriemhild mit den Worten an ?Rührt dich denn nichts…??, nachdem nämlich Hagen aufgrund einer Provokation das gemeinsame Kind von Kriemhild und Etzel gemordet hat und Etzel daraufhin die Burgunder außer Recht und Gnade setzt. Im Original spricht dies Hildebrant, nachdem Kriemhild den Markgrafen Rüdeger ins Feld gegen die Burgunder zwingt, obwohl er mit diesen verschwägert ist und obwohl sich diese schon gegen das ganze Hunnenheer erfolgreich verteidigt haben: ?Rührt dich denn nichts? Noch niemals standen Männer/Zusammen, wie die Nibelungen hier, /Und was sie auch verbrochen haben mögen, /Sie haben?s gut gemacht durch diesen Mut /Und diese Treue…? Aber von Mut ist sowieso weit und breit nichts zu sehen, denn die Burgunder stehen im letzen Teil zitternd hinter ihren Schildern und warten auf das, was Kriemhild und Etzel ihnen zugedacht haben. Aber wie gesagt, es ist Programm: Auch Mut und Treue sind nicht gefragt, sollen vielmehr in Frage gestellt werden. Derlei deplazierte Textumstellungen machen freilich nicht nur das, sondern alles Geschehen auf der Bühne schwer nachvollziehbar.

Insofern ist dann auch egal, dass der berühmte Dietrich von Bern als Hosenrolle und Metamorphose der Brunhild erscheint. Offensichtlich sogar ohne jeden ironischen Hintergedanken, denn Susanne Stein in der Doppelrolle Brunhild/Dietrich spricht den Dietrich ernst und wacker, wenn auch im Vergleich zu den andern Männern zwangsläufig mit etwas dünnerer Stimme. Auch hier ist, wenn es denn eine besonders gescheite Interpretation sein soll, diese nur schwer als solche zu erkennen. Der stärkste Mann nach Siegfrieds Tod ist nunmehr eine Frau? Letzter Tropfen auf den lange schon abgekühlten Stein ist dann der Schluss, wo Dietrich von Bern, statt die Krone von Etzel ?im Namen dessen, der am Kreuz erblich? anzunehmen, diese verweigert mit den von anderer Stelle geborgten Worten: ?Wenn ich auch wollte, wie vermöcht ich?s wohl?? Es bleibt dabei, Lang möchte alle Schicksalsträchtigkeit und alle ideologischen, christlichen wie mythologischen, Andeutungen von vornherein ausklammern und ersetzt hoffnungsvolle Antizipation durch resignative Konstatierung.

Dennoch bliebe für das Stück neben dem allgemein bekannten Eifersuchtsdrama ein weiterer Konflikt, der sich aus dem oben skizzierten ableiten lässt, noch zu retten. Denn das Aufeinanderprallen zwischen altem und neuem Reich ist auch eines zwischen Matriarchat und Patriarchat. Dadurch, dass mit Hilfe von Siegfried der Willen Brunhilds gebrochen wird, ist der ?Kampf der Geschlechter? (so wird es im Text explizit gesagt) entschieden. In gewisser Hinsicht setzt Kriemhild diesen Kampf fort, wenn sie Etzel und sein Volk im Kampf gegen ihre eigene Sippe instrumentalisiert und diese wie jene sich gegenseitig auslöschen lässt. Und auch die Frau im Mann Dietrich von Bern bekäme unter diesem Aspekt wieder ihren Sinn. Letztendlich geht es jedoch bei solchen Erörterungen vor allem um die Frage, ob eine bewusste Dekonstruktion des Hebbelschen Dramas zu einer tragfähigen Konzeption, zu einer dramatisch aktuellen Grundkonstellation führt oder nicht.

Es ist gewiss unüblich und vielleicht auch ungerecht, eine Besprechung anhand der Kritikpunkte und nicht der lobenswerten Merkmale aufzurollen. Gerade auch dann, wenn die Inszenierung durchaus vielversprechend begonnen hat. Aus ihren Gräbern steigen sechs Kämpen und nicht nur das Faktum ihres Todes, sondern auch ihre Kleidung verrät: Hier wird eine Geschichte aus vergangener Zeit erzählt, eine Geschichte, die nicht mutwillig in die Gegenwart gerettet werden soll. Im Gegenteil, die Protagonisten ziehen ihre Zukunft in Gestalt der Särge wie Reisekoffer hinter sich her. Sie haben den Tod im Gepäck. Bühnenbild und Kostüme von Marcel Keller sind anziehend und einlullend in ihrer angenehmen Farbigkeit und lockenden räumlichen Tiefe, aber dennoch distanzschaffend wegen des glücklichen Verzichts auf aktualisierende Accessoires (einziger und wirklich störender Stilbruch ist die Brille auf der Nase von Markgraf Rüdeger, die ihn zusammen mit dem ?Feuerwehrhelm? wie eine Witzfigur aussehen lässt).

Und so beginnen die Helden denn auch gleich zu betonen, dass hier nur eine alte Geschichte erzählt wird (Lang hat Hebbels Widmung an seine Frau als Prolog eingefügt), bevor sie unmerklich in den eigentlichen Text übergehen. In eitlen und selbstgefälligen Posen entspringt aus einer Laune heraus die Idee, die sagenhafte Brunhild als Weib für König Gunther an den Hof zu holen. Gesagt, getan, Hilfe kommt auch prompt durch eine Tür im gestirnten Himmel: Als Held aus einer anderen Welt erscheint Siegfried. Ein goldgelockter Gockel mit dem Gewese eines bekannten Showmasters, ein göttlicher Schalk, der sich zum Zeitvertreib um Königreiche duelliert und, weil er aufgrund seiner Unverwundbarkeit keinen Herausforderer findet, Felsbrocken umher schmeißt, die sich hinterher (welch unfehlbarer Zirkuslacher) als Pappmaschee herausstellen. Seine Heldentaten spult er herunter wie einen Sportkommentar und Brunhild ist ihm nur Einsatz im Spiel um Liebe und Macht.

Empfangen wird der Mann mit der Drachenhaut ängstlich und misstrauisch, wie ein Rudiment aus alter Zeit, ein geklonter Dinosaurier etwa, den es zu zähmen gilt. Hier in Burgund zählt allein der Pragmatismus. Der Zweck heiligt die Mittel, die Ehre ist unantastbar, solange die Beteiligten dichthalten. Tun sie es nicht, fallen sie auch nicht mehr unter das Gesetz. Und wer sich wie ein Drache schützt, wird wie ein solcher hinterrücks erdolcht. (Hagen: ?Den Recken hätte ich/ Gefordert, und mir ist?s wohl zuzutraun,/ Allein er war vom Drachen nicht zu trennen,/ Und Drachen schlägt man tot…?)

So bewegt sich Siegfried in einer Welt, die ihn nicht annimmt, wenngleich er es auch durch seine Vasallendienste und die Heirat mit Kriemhild versucht. Allein er ist, wenigstens in der Leipziger Inszenierung, selbst nicht schuldlos daran, lässt er doch keine Gelegenheit aus, die anderen seine Überlegenheit spüren zu lassen. Da Marco Albrecht und Martin Reik als Gunther und Siegfried die Darstellung jener Mischung aus Selbstgefälligkeit und Scheinheiligkeit glänzend beherrschen, scheint dieser Ansatz zu einer Interpretation anfangs tatsächlich zu ziehen. Dass er sich aber bald schon als nicht tragfähig erweist, liegt vor allem daran, dass für die Figur der Kriemhild keine erkennbare Konzeption entwickelt wurde. Susanne Böwe bleibt im Gegensatz zu Susanne Stein, deren Brunhild auch schon gesittet genug ist, blass und leidenschaftslos.

Unabhängig davon, ob man Kriemhild als Sinnbild der Rache, als Archetypus der Raserei sehen möchte oder nicht, hätte, um das Bühnengeschehen dauerhaft voranzutreiben, Kriemhilds Rache als Ausdruck einer von den Burgundern entrechteten Individualität auf jeden Fall mehr Leidenschaft verlangt. Statt dessen aber bleibt es bei einem hilflos wirkenden Rezitieren, das sich über dreieinhalb Stunden monoton hinzieht und noch unterstützt wird durch das radikale Streichen aller ?Action-Szenen?. Nach spätestens zwei Stunden ist das Publikum geschlagen, wohl kaum mehr aufnahmefähig für Text und Darstellung. Und so nimmt das Schicksal denn plätschernd seinen Lauf…

Wenn eine zwangsläufig zurechtgestutzte Textfassung, die gegen Ende, was die innere Logik des Werks betrifft, nicht mehr zusammenhält, das Stück nicht interessanter, sondern langweiliger macht, ist sie wohl kaum zu rechtfertigen. Wenn eine bewusst entdramatisierte Spielfassung, bei der das Szenische auf ein Minimum reduziert wird (und dabei hätte nach den zwei Stunden vor der Pause den trockenen Augen und wunden Ohren der Zuschauer ein wenig Blut nach der Pause durchaus gut getan) zu reinem Sprechtheater führt, bei dem trotz wunderbarer Sprache und hoher Sprachkultur wie im Deutschunterricht rezitiert wird, macht sie nach drei Stunden nur noch böse. Im Deutschunterricht zählt schließlich nicht umsonst die Stunde nur 45 Minuten. Aber selbst da wären dreieinhalb mehr als zuviel des Guten. Schade drum, schließlich hatte alles so gut angefangen… Aber sei es, wie es sei, dem Namen ?Lang? tuts gewiss keinen Abbruch, in dem Fall mal ein böses Omen gewesen zu sein.

(Marcus Erb-Szymanski)

Mitwirkende:

Bühne und Kostüme: Marcel Keller
Dramaturgie: Dagmar Borrmann
König Gunther: Marco Albrecht
Hagen Tronje: Matthias Hummitzsch
Volker, der Spielmann: Oliver Kraushaar
Giselher, Bruder des Königs: Liv-Juliane Barine
Gerenot, Bruder des Königs: Patrick Imhof
Rumolt, der Küchenmeister: Dieter Jaßlauk
Siegfried: Martin Reik
Kriemhild: Susanne Böwe
Brunhild, Königin von Isenland/
Dietrich von Bern: Susanne Stein
Frigga, ihre Amme: Ellen Hellwig
König Etzel: Jochen Noch
Markgraf Rüdeger: Friedhelm Eberl
Otnit, ein Kind: Moritz Mack/Georg Hans

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