Händel: „Belshazzar” /Walton: „Belshazzar\’s Feast” (Michael Maul)

30. Januar 2001 Gewandhaus, Großer SaalChor und Orchester des MDR mit Händel und Walton
Vom großen Durst!
Etwas über Leipzig und Halle, Leipzig und Händel, Händel und Bach

Irgendwie ist es immer noch ein gestörtes Verhältnis! Aber warum eigentlich? Alles hatte doch so gut begonnen!

In den 1770er Jahren strömten Kenner und Liebhaber in Braunschweig, Hamburg, Berlin und Leipzig in die Kirchen und Konzertsäle, um ihrem mitteldeutschen Exportprodukt – Georg Friedrich Händel – und seinen erhabenen Oratorien zu lauschen.

Wahrscheinlich ist an allem mal wieder Charles Burney schuld?! Der englische Musikreisende hatte aus Anlaß der 1784 in London stattgefundenen Händel-Gedächtnisfeier in seinem Account of the musical Performances in Westminster-Abbey (dt. Übersetzung: Dr. Karl Burney’s Nachricht von Georg Friedrich Händel’s Lebensumständen) postuliert: daß Händel in seinen vollen, meisterhaften und herrlichen Orgelfugen, wozu das Thema jedesmal höchst natürlich und gefällig ist, den Frescobaldi, und selbst Johann Sebastian Bach, und andre Deutsche übertroffen hat, die in dieser schweren und mühsamen Satzart am berühmtesten sind (dt. Übersetzung J.J. Eschenburg, Berlin 1785)

Ein Aufschrei ging daraufhin durch die kleinen aber elitär und selbstsicher auftretenden norddeutschen Bach-Zirkel – hier hatte Burney ein Tabu gebrochen. Und tatsächlich meldet sich 1788 das greise Sprachrohr des bachschen Erbes – Carl Philipp Emanuel Bach – wenige Monate vor seinem Tod, wenn auch anonym, aber doch donnernd zu Wort und stellt noch einmal klar, wo in der großen Musik Oben und Unten ist: Bach und Händel sind in einem Jahre, nämlich 1685 gebohren, folglich komponirten sie ohngefähr zur gleicher Zeit. […] Claviersachen von Bachen und Händeln erschienen zu gleicher Zeit in den zwanziger Jahren dieses Sekulums im Druck. Aber welche Verschiedenheit! In Händels Sviten ist viel Copie nach der damaligen Art der Franzosen, und nicht viel Verschiedenheit; in Bachs Theilen der Clavierübung ist alles Original und verschieden. Der Gesang der Arien mit Veränderungen in Händels Sviten ist platt und für unsere Zeiten viel zu einfältig; Bachs Arien mit Veränderungen sind noch jetzt gut, sind Original, und werden deswegen nicht veralten. […] Der erste Theil von Händels Claviersviten ist bis auf die Arien sehr gut. Der zweyte Theil soll galanter seyn, aber ist mehrentheils gemein und elend.Händels Fugen erstrecken sich nicht weiter, als höchstens auf vier Stimmen. Bach hat in seinen Sammlungen des so betitelten wohl temperirten Claviers fünfstimmige Fugen, und zwar durch alle vier und zwanzig Thonarten gemacht. Sogar hat man eine Fuge von ihm über das Königlich Preußische Thema mit sechs Stimmen und zwar manualiter. Man wird doch ohne Widerspruch annehmen dürfen, daß das Pedal der wesentlichste Theil einer Orgel sey, ohne welches sie wenig von dem Majestätischen, Großen, Kraftvollen, das ihr allein vor allen Instrumenten zukömmt, übrig behalten würde. […] Und unter allen den Händelschen Orgelsachen, die ich kenne, finde ich keines, das die oben an den Bachischen gerühmten Vorzüge hätte. Allenthalben giebt das Pedal Trumpf zu, das ist, es thut nichts weiter, als den Baß verstärken.

Dabei war bei Bachs zu Hause anfangs der Durst nach Händels Musik vorhanden. Von Seiten des Thomaskantors wissen wir jedenfalls von einer gewissen Wertschätzung Händels: Schon 1719 unternimmt Bach vom Köthener Hof aus einen Tagesausflug nach Halle, wo Händel zu dieser Zeit weilte. Just an diesem Tag ist der Neuengländer aber bereits abgereist. Irgendwann in den Sommermonaten 1729 ist der gefeierte Opernunternehmer ein zweites mal in Halle. Da Bach zu dieser Zeit gerade unpässlich ist, schickte er Wilhelm Friedemann in die Saalestadt, um Händel eine Einladung nach Leipzig zu überreichen. Doch auch jetzt lehnt Händel ab. Ein letztes Mal besuchte Händel zwischen August und Dezember 1750 seine Geburtsstadt. Hier könnte es dann maximal zu einem Gipfeltreffen anderer Natur gekommen sein. Denn betrachtet man Händels überlieferten legendären Hunger und den ebenfalls bekannten Durst des hallischen Organisten an Unser Lieben Frauen – Wilhelm Friedemann Bach – so zeigen sich neben dem musikalischen Talent beider auch andere auffällige Parallelen. Ein solches Gipfeltreffen hätte dann sicher im Gasthof zum Goldenen Ring seinen historisch richtigen Platz gehabt, wissen wir doch, daß Bach hier ehedem gemeinsam mit Johann Kuhnau und dem Quedlinburger Musikdirektor Christian Friedrich Rolle 1716 anläßlich einer Orgelabnahme großen Durst hatte und laut Quittung eine Menge Bier und 44 Kannen Rein-Wein verdrückt hatte. – Doch genug des Schnappslateins!

Vom alten Bach wissen wir auch, daß es ihm nach Händelscher Musik dürstete. So schrieb er sich in seiner letzten Lebensdekade Händels umfangreiche Brockes-Passion mühsam Note für Note ab und führte das Werk vermutlich auch im Rahmen des Leipziger Großen Concerts auf. Diese Abschrift ist vollständig!

Und damit wäre Rec. nun bei dem eigentlichen Anlaß dieser Ausführungen angelangt. Bis heute wird der hiesige Händel-Liebhaber in Leipzig nicht gerade verwöhnt. Abgesehen von den unzähligen Messias-Aufführungen und diversen Feuerwasser – Musiken wird der Durst nach Musik des nur 35km nordwestlich von hier geborenen Genius nur selten gestillt. Lediglich im Programm des MDR-Orchesters kamen in den letzten Jahren Werke abseits dieses Repertoires zur Aufführung. Allzu oft mußte also der Leipziger Händelliebhaber seinen Horizont nach jenseits der A9 ausdehnen, wo mit den jährlich etablierten Festspielen in Halle und Bad Lauchstädt zumindest zeitweise dieser Durst gestillt werden konnte. Für den vergangenen Dienstag (30.01.2001) war dann doch eines der dramatischsten Oratorien Händels – die Vertonung des alttestamentarischen Belshazzar-Stoffes – auf dem Programm der Rundfunkkonzerte. Was vorab auf den Plakaten als Konzertfassung angekündigt war, entpuppte sich aber als unzumutbarer Zusammenschnitt der dramatischsten Chöre und Accompagnato- Rezitative. Zwar könnte man argumentieren, daß Händel bei seinen drei nachweisbaren Aufführungen des Oratoriums 1745, 1751 und 1758 wegen des mangelnden Erfolges ständig Änderungen und Kürzungen an der Partitur vornahm. Ein dreieinhalb Stunden Oratorium aber auf 45 Minuten zusammen zu kürzen, damit ist niemandem gedient – weder Händel noch dem durstigen Zuhörer. Sicherlich ist die Konzeption Howard Armans, der die Aufführung vom Cembalo aus leitete, Händels Vertonung des Stoffes derjenigen William Waltons aus dem Jahr 1931 gegenüberzustellen und damit ein Stück englische Oratoriengeschichte an einem Abend zu rekapitulieren, durchaus nachvollziehbar. Allerdings hinkt der Vergleich zwischen einem vollständig aufgeführten Werk Waltons mit einer 20-aus-100-Variante des Händelschen Oratoriums von vornherein. Wie würde man in Leipzig etwa die Nase rümpfen, wenn innerhalb eines Konzertprogrammes die Matthäuspassion in Vertonungen Bachs und Telemanns (oder auch Pendereckis Lukas-Passion) dargeboten, und aus Rücksicht auf den Zuhörer auf jeweils eine Stunde gekürzt werden! Aber damit wird – nicht nur in Leipzig – auch ein symptomatischer Umgang mit Händels Werken deutlich. Die Achtung vor dem Gesamtkunstwerk Händel-Oratorium ist selbst in CD-Produktionen viel zu selten berücksichtigt und deshalb sind die Stücke oft ihrer Wirkung beraubt. Daß Händel aber neben dem Repertoire- Schwergewicht Messias weitaus dramatischere Musik geschrieben hat, daß wenigstens wurde an diesem Abend deutlich. Die direkt aufeinander prallenden Chöre der Juden (Kontrapunkt) und Babylonier (triviale Homophonität) bei dem ausschweifenden Gastmahl Belshazzars hatten zugegebenermaßen in dieser Dichte gerade ihren Reiz. Der glänzend aufgelegte MDR-Chor verwirklichte souverän Armans Spagat zwischen Aufführungspraxis und emotionaler Anteilnahme und machte Lust auf mehr! Leider konnte das gering besetzte MDR-Orchester (Streicher: 6,5,4,3,2) diesen Ansatz nicht so konsequent verwirklichen. So geriet die Ouvertüre insgesamt zu zahm und uneinheitlich. Auch das aus Telemanns Tafelmusik geklaute Allegro postillions war eher ein schnelleres Andante.

Erst am plötzlichen Ende des Festes, wo Belshazzar die geraubten heiligen jüdischen Gefäße spottend herbeiholen läßt und an der Wand die von Geisterhand geschriebenen Worte „MENE, TEKEL, UPHARSIN“ erscheinen, dort wo Händels Musik plötzlich fernab aller Opernroutine unglaubliches vollbringt, da erst läßt sich auch das Orchester vom Chor und von Händel mitreißen.

Altus Gunther Schmid gestaltete das Accompagnato der Schrift-Übersetzung mit einer spannungsgeladenen Mischung zwischen Zorn und Mitleid. Auch der in den meisten Szenen betrunken agierende Belshazzar – der kanadische Baß Nathan Berg – gestaltete seinen Part überzeugend. Lediglich Bernhard Landauer, der trotz Indisposition auftrat, konnte nicht das zeigen, was man schon von ihm auf diversen Konserven gehört hat.

Insgesamt auf jeden Fall eine mitreißende Darbietung des Belshazzar-Pasticcios. Die Lust auf mehr konnte aber auch William Waltons vor Monumentalität strotzendes Oratorium auch nicht stillen, so daß am Ende dieses Abends doch wieder der Durst war …

(Michael Maul)

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