konzertante Aufführung: Mozart „Idomeneo” (Wolfgang Gersthofer)

07. Februar 2001 Semperoper Dresden

Mozart „Idomeneo“ – konzertante Aufführung

Dirigent: Sir Colin Davis, Choreinstudierung: Christof Bauer
Idomeneo: Michael Schade
Idamante: Susanne Mentzer
Elektra: Barbara Frittoli
Ilia: Ute Selbig
Arbace: Gerald Hupach
Operpriester: Carsten Süß
Stimme des Orakels: Georg Zeppenfeld

Mit Sir Colin Davis im siebten (Mozart-)Himmel

Konzertanter „Idomeneo“ an der Semperoper

Er kommt immer wieder gern an die Elbe, um mit der Sächsischen Staatskapelle Mozart (und anderes) zu musizieren: Sir Colin Davis, der elastische Siebziger, der zuvor lange Jahre an der Themse (Covent Garden) und dann an der Isar (Bayerischer Rundfunk) gewirkt hatte. Vor einigen Jahren schenkte er den Dresdnern einen „Figaro“, wie man ihn wohl selten hat hören können. Nun also stand mit dem (leider nur) konzertanten „Idomeneo“ ein Werk auf dem Programm, das, unter Kennern längst hochgeschätzt, wohl noch immer dem eher unbekannten Mozart zuzurechnen ist. Der antike Mythos thematisiert die Grausamkeit gewisser Rituale im Umgang mit den Göttern: um den Meeresgott zu besänftigen, gelobt der kretische König Idomeneo, den ersten Menschen, welchem er am heimatlichen Strand begegnet, zu opfern; dieser aber wird sein eigener Sohn Idamante sein (ein ähnlicher Konflikt manifestiert sich übrigens im alttestamentarischen Jephta-Stoff).

Davis bot eine – für Mozart – relativ große Streicherbesetzung auf, immerhin 12 Erste Geigen (bei 6 Celli und 4 Kontrabässen). Das tat dem Werk durchaus gut. Denn gerade der „Idomeneo“ ist ,große‘, prächtige Musik, vielleicht die prächtigste Musik, die es um 1780 gab, geschrieben für eines der glanzvollsten Orchester des seinerzeitigen Europa, für die berühmte Mannheimer Hofkapelle, die mit ihrem Kurfürsten Carl Theodor, der die bayerische Erbfolge anzutreten hatte, Ende der Siebzigerjahre nach München umgezogen war. Mozart kannte (und liebte) das Orchester von seiner ausgedehnten Mannheim-Zwischenstation auf der Paris-Reise her.

Gewiß hätte Mozart auch an der Sächsischen Staatskapelle des Jahres 2001 seine Freude gehabt. Schon bald wurde spürbar, daß hier ein eingespieltes Team – mittlerweile ist es 20 Jahre her, daß Colin Davis bei der Schallplatteneinspielung der „Zauberflöte“ erstmals mit der Staatskapelle zusammenarbeitete – sich mit nie versiegendem Engagement des Wunders Mozart annahm. Kraftvoll und geschmeidig zugleich kam dieser „Idomeneo“ daher, mit großem (nie breiigem) Ton oder feinnervig-präsentem Spiel, je nachdem, wie es die großartig-vielfältige Partitur nahelegt. Einfach bewundernswert der homogene samtene Dresdner Streicherklang, der (unbedingte) Wille zur einheitlichen Linienführung. Dazu ein Maestro, der sich liebevoll bei den kleinsten Überbrückungsfiguren den Bratschen zuwendet, der Mozarts oft so gestisch anmutende Baßlinien entsprechend auszuloten weiß. Nur ein Detail: Wie bewußt war im Adagio-Einschub innerhalb von Idomeneos Solo vor dem Schlußchor des 2. Aktes, dem originellen Fluchtchor, der kleine chromatische Streichbaßgang erklungen; nicht zuletzt verhalf solche gänzlich unprätentiöse Plastizität jenem Einschub zu einer ganz eigenen Innigkeit, die natürlich auch nach den prunkend-königlichen Takten, welche dieser Stelle vorausgehen, besonders gut zur Wirkung zu bringen ist. Und derlei Auskosten von kleinen Details geschieht bei Colin Davis immer mit der elegantesten Selbstverständlichkeit.

Der „Idomeneo“ ist ein stilistisch nicht leicht einzuordnendes Stück. Er ist beileibe keine waschechte opera seria mehr. Auffällig etwa, wie viele Arien und Ensembles keinen eigentlichen, orchestral abgerundeten Schluß aufweisen, der Fluß der dramatischen Entwicklung drängt weiter: so mündet etwa Elektras 1. Akt-Arie mittels einiger schier atemberaubender Überleitungstakte des Orchesters direkt in den „Piet?!“-Chor, welcher wiederum in das kurze orchesterbegleitete Rezitativ des endlich einsam an den rettenden Strand gespülten Idomeneo ausläuft! Oder nehmen wir das Liebesduett des dritten Aktes: Kaum daß die beiden jungen Menschen ihre Schlußtonika erreicht haben, setzt auch schon der hinzugekommene Idomeneo rezitativisch an („Himmel, was sehe ich“).

Aber Mozarts Werk ist natürlich auch – nicht nur aus Sprachgründen – keine wirkliche tragédie lyrique (das italienische Libretto geht ja auf eine ältere französiche Oper aus dem Jahre 1712 zurück), wenngleich mancherlei französische Stilelemente sich bemerkbar machen. Solche italienisch-französischen ,Mischtendenzen‘ in (musik-)stilistischer Hinsicht sind zuvor etwa (stets innerhalb italienisch gesungener Opern versteht sich) bei Niccol? Jommelli in Stuttgart, Tommaso Traetta in Parma oder bei Gian Francesco de Majo anzutreffen; alles Komponisten übrigens, die an der Mannheimer Hofoper gespielt wurden, ja die teilweise explizit für den Mannheimer Hof geschrieben haben (wenn wir z.B. an de Majos „Ifigenia in Tauride“ von 1764 denken). Somit gehört der „Idomeneo“ letztlich in den Kontext jener „Opernreform“ ab der Jahrhundertmitte, die man immer so gern allein Meister Gluck in die Schuhe zu schieben geneigt ist.

Ein Charakteristikum der „Idomeneo“-Partitur sind die vielen Accompagnato-Rezitative. In der alten opera seria, sagen wir händelscher oder auch hassescher Prägung, wurden derartige orchesterbegleitete Rezitative weit sparsamer eingesetzt, sozusagen für besondere Momente aufgespart. Die franzšsische Oper hingegen machte sie zum Prinzip. Schon Mozarts Eröffnungsrezitativ (Ilia) ist ein Accompagnato, ein sehr abwechslungsreich behandeltes, das wohl über die eher einfachen Streicherrezitative der (oft eingewanderten) Franzosen hinausgeht. Mozart bezieht auch gelegentlich, etwa gegen Ende des ersten Aktes, die Holzbläser in seine Accompagnati ein (Rezitativ Idamante).

Die mitunter – ihrer flexibel eingeworfenen Figuren wegen – durchaus heikel zu spielenden Accompagnato-Rezitative waren bei Davis und der Sächsischen Staatskapelle bestens aufgehoben. Heftige Streichergesten wie introvertiert-stimmungshafte Piano-Klangflächen sorgten gleichermaßen für jene Schärfung des musikdramatischen Profils, die Mozart mit seinem ausführlichen Accompagnato-Gebrauch vermutlich verfolgt hatte.

Genauso eindrucksvoll wie das Orchester präsentierte sich der reichbesetzte Chor der Sächsischen Staatsoper, welcher in unserer Mozartoper ja einiges zu tun bekam (dies eines der französischen Stilmomente). Der teils durch peitschende Figuren der Piccoloflöte intensivierte Schreckenschor gegen Ende des zweiten Aktes („Qual nuovo terrore!“) – da Idomeneo zögert, seinen Schwur einzulösen, schickt Neptun ein schreckliches Ungeheuer nach Kreta – macht einmal mehr deutlich, wie sich Mozarts Vergegenwärtigung der griechischen Antike in einer gleichsam aus dem Vollen schöpfenden Musik realisiert. Dagegen mag einem Glucks – vielleicht stilreinere – Antike vom musikalischen Standpunkt her manchmal ein wenig blutleer-akademisch vorkommen …
Colin Davis hatte ein hochkarätiges Solistenensemble um sich versammelt. Ute Selbig gab mit vollem Sopran die trojanische Prinzessin Ilia, die es als Kriegsgefangene nach Kreta verschlagen hat. Barbara Frittoli als ihre Rivalin Elektra wirkte in der ersten, extrovertierten Arie noch ein klein wenig verhalten, überzeugte freilich in den lyrischen Partien des zweiten Aktes. Idamante, der kretische Prinz, steht zwischen den beiden Frauen (Elektra ist ihm bestimmt, aber für die trojanische ,Feindin‘ keimt Liebe in ihm auf); Susanne Mentzner verkörperte ihn mit überzeugender Eindringlichkeit, wenn auch ihr Timbre vielleicht nicht das klangsinnlichste ist. Der Deutschkanadier Michael Schade schließlich agierte mit einer Intensität, die manches Mal fast die (fehlende) Szene heraufbeschor; so wurde etwa die (für den König fürchterliche, den zentralen mythischen Konflikt bergende) Begegnung mit Idamante am Ende des ersten Aktes zu einem großen Moment. Angesichts seines schön und ausdrucksstark geführten Tenors mag es beckmesserisch erscheinen, anzumerken, daß er mit den ausgedehnten Koloraturen in der großen Arie aus dem zweiten Akt, mit den – wie Mozart so schön schreibt – „geschnittenen Nudeln“ (die für den bereits weit über 60jährigen Uraufführungssänger Anton Raaff angebracht werden mußten) nicht ganz so gut zurechtkam. Eine wahre Herrscherarie übrigens – in D-Dur, mit Trompeten und Pauken -, die jetzt in Dresden spontan Beifall auslöste (O-Ton Mozart: „überhaupt […] die Prächtigste aria in der opera“).

Immer wieder sticht im „Idomeneo“ die reiche (Holz-)Bläserverwendung ins – Ohr (Ilias Arie im zweiten Akt ist mit vier konzertierenden Bläserparten bestückt: Flöte, Oboe, Fagott, Horn – man fühlt sich ein wenig an die „Marternarie“ aus der „Entführung“ erinnert). Und immer wieder verblüfft es einen, was diesem 24jährigen Burschen Mozart in jener Hinsicht alles so eingefallen ist. Nehmen wir nur Idomeneos „Gebet“ im dritten Akt (Cavatine mit Chor). Eine wunderbare Tenorlinie über einer Pizzicato-Begleitung. Ein Gluck hätte es dabei – wenn ihm ein solcher melodischer Bogen eingefallen wäre – bewenden lassen. Aber nicht so Mozart: er fügt noch ein duftiges Gewebe aus Flöten- und Oboenterzen hinzu, in das sich später die Klarinetten mischen…

Überhaupt dieser dritte Akt! Schon seinerzeit in den Proben vor der Uraufführung hat man „gefunden daß er die 2 Erstern Ackte noch um viel übertrift“ (wie Mozart nach Hause schreibt). Er enthält, um einige Punkte herauszugreifen, das schöne Duett, indem sich Ilia und Idamante endlich rückhaltlos zueinander bekennen. Und dann das Wunder des Quartetts, vier Menschen in seelischer Bedrängnis. Die ersten orchestralen Takte stecken mit gestischer Präzision die Lage ab: eine rhythmisch geschärfte, unisone Abwärtszerlegung – die gespannte pp-Wachheit wurde von Davis und den Dresdnern genauestens getroffen -, wenn die höheren Streicher dann ihre Lage festhalten, führt die Baßlinie schrittweise weiter in die Tiefe. Es ist der einsame, von seinem Vater in die Fremde geschickte Idamante, der diese Musik aufnimmt. Wie das Quartett begonnen hatte, so endet es, mit dem Abstieg ins Bodenlose: „Andr? ramingo e solo“, Idamante auf dem Weg ins Nirgendwo.

Wenig später noch einmal ein großer Chor, die entsetzte Reaktion des Volkes auf Idomeneos grause Enthüllung, daß sein eigener Sohn das Opfer sein soll. Von Colin Davis mit unerbittlicher Hand gestaltet. Ein Chor von eherner Monumentalität, ja von antiker Größe. Und ein Musikstück, bei dem mancher Musikfreund, überraschte man ihn damit, vielleicht nicht sogleich auf Mozart tippen würde. Mithin konnte einem hier wieder aufgehen, mit welch ,unerhörter‘ Partitur wir es eigentlich beim „Idomeneo“ zu tun haben. Mit einer Partitur, die so viel dunkle mozartische Musik – fast fahl wirken bisweilen bestimmte Holzbläserklänge – einbegreift wie kaum eine andere des Salzburger Meisters.

Schließlich, nachdem sich Ilia für Idamante als Opfer angeboten hat, löst der Götterspruch, die von geheimnisvollem Posaunenklang getragene Stimme des Orakels, die unheilvolle Situation. Die Liebenden können nun offiziell zusammenfinden, als neues Herrscherpaar sollen sie den Thron besteigen. Nur für Elektra ist es keine Wendung zum guten. In einer furiosen Arie, die man bei der Münchner Uraufführung offensichtlich weggelassen hatte, entädt sich ihre ganze Enttäuschung. Hier konnte Barabara Frittoli noch einmal groß auftrumpfen. Wobei ihr Maestro Davis in nichts nachstand: allein schon der erste trompetenglänzende Tuttieinsatz – noch im Accompagnato – war einfach fulminant, ließ das Haus erbeben und machte sofort klar, daß diese Elektra den Typus des „rasenden Weibes“ in vollendeter Ausprägung darzustellen vermöchte.

Und es zeigte sich, daß sich Mozart auch bei diesem Bravourstück nicht verrechnet hat: denn es war dies die zweite Einzelnummer, die beim Dresdner Publikum von 2001 einen Szenenapplaus errang.

Ziehen wir aus dem einzelnen die Summe: ein beglückender Mozart-Genuß in der Semperoper!


(Wolfgang Gersthofer)

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