Ich weigere mich, ein zweites Mal die Gottfried-Wilhelm-Müller-Straße hinunterzugehen zum Park, auch die Paul-Robert-Uhrig-Straße oder die Kazimierz-Kaczmarek-Straße oder die Etkar-Nesselbett-Straße oder die Hans-Herbert-Hetzelmann-Straße können mich nicht verführen mit ihren postmodernen architektonischen Neubaukleinodien von 1995 und den einsturzgefährdeten Fassaden und leeren Fensterhöhlen von anno dazumal. Ich wähle lieber die Hegel-Straße, die parallel zur Gottfried-Wilhelm-Müller-Straße verläuft, ohne die öden Mietskasernen aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg mit dem bröckelndem Putz und den zerlöcherten Dachrinnen, offenbar alles niemals restauriert, renoviert oder saniert seitdem. Ich sehe, wie man ab und zu selbst noch Braunkohlenbriketts in die Kellerluken schaufelt. Schaurig, schaurig, das erinnert mich an die vierunddreißig endlosen Jahre, in denen ich die Kachelöfen der sechs verfallenden, verfaulenden, verschimmelnden Mietwohnungen feuern mußte, die ich bewohnte. Nein, durch solche Straßen will ich mein Lebtag nicht mehr gehen, wenn es sich irgend vermeiden läßt. Wer war denn überhaupt dieser Gottfried-Wilhelm-Müller? Vermutlich der Begründer des deutschen Kaninchenzüchtervereins in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts oder etwas Ähnliches. Also lieber die Hegel-Straße zwischen den schönen alten, zum Teil hinter Bäumen versteckten Villen, die auf lauschige, logische, dialektische Weise in ein paar Qualitätssprüngen zum Park hinabführt. Doch ich will mich nicht ausschließlich auf Hegel verpflichten lassen, schon wegen meiner Söhne, die dann zu argumentieren und diskutieren anfangen könnten, und biege öfter einmal auf schroffe Weise ab in die Nietzschestraße, die Baaderstsraße, die Schopenhauerstraße, die Mörikestraße, die Lenaustraße, und wenn ich ein Weile im Park gesessen und ein paar Seiten in meinen seltsamen Büchern gelesen habe (mißtrauisch beäugt von den unweit auf kaputten Bänken sitzenden oder vorbeischlurfenden Rentnern und Arbeitslosen und rauchenden Schülerinnen, die es scheints verdächtig finden, daß man liest oder etwas anderes liest als BILD oder den Stern oder Programmzeitschriften oder Rätselhefte oder Taschenbücher von Grisham und Crichton und Follett und Lind, sondern irgend etwas abstoßend intellektuell oder ausländisch Anmutendes oder gar eine zerfledderte, in Packpapier eingeschlagene alte Schwarte, das halten sie vermutlich für asozial, jedenfalls ist es abzulehnen oder zumindest lächerlich), dann gehe ich zurück durch die Schellingstraße oder die Mörikestraße, oder ich schlage einen großen Bogen, gehe zwischen zwei Friedhöfen mit allerhand Vogelgezwitscher und Rhododendron und Mega-Komposthaufen hindurch und schreite die achtzig glorreichen Meter der hiesigen Hölderlin-Straße ab, es ist schon ein Jammer. Aber ich finde es gut, wenn sich wenigstens einer hier im Viertel entsinnt, daß man sich einmal an Hölderlin erinnert hat mit einer achtzig Meter langen Straße, auch wenn ihn heute fast niemand mehr kennt oder gar liest außer einem gewissen jungen Herrn H., den ich kürzlich kennengelernt habe und der Hölderlin nacheifert, obwohl er leider nicht in der Hölderlinstraße wohnt sondern in der Hermann-Albrecht-Theodor-Lehmann-Straße, und es überhaupt sehr schwer ist, ihm nachzueifern. Das Viertel liegt zwischen Kleist und Hölderlin, und Nietzsche und Hegel und Schopenhauer liegen genau in der Mitte, ja selbst ein Stauffenbergweg und eine Bonhoeffergasse ist auf dem Stadtplan verzeichnet, ich hab sie noch nicht gefunden, vielleicht sind sie nur zwanzig Meter lang. Die Dichterinnen und Denkerinnen, die großen Heldinnen hat man damals und heute wie üblich vergessen, arme Mechthild von Magdeburg, Jungfrau von Orléans und du, ungelesene Droste! Doch es bleibt schon ein Trost, daß es hier solche Straßennamen gibt. Die Hegelstraße gehe ich jetzt zurück, mal sehen, ob das Haus, in dem ich wohne, noch an der alten Stelle steht.
28. Mai 1997
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