Sinfonieorchester des MDR spielt Pilati, Zimmermann, Debussy, Ravel (Marcus Erb-Szymanski)

25. Februar 2001 Großer Saal des GewandhausesSinfonieorchester des Mitteldeutschen Rundfunks
Dirigent: Fabio Luisi, Solist: François Guye, Violoncello

Mario Pilati (1903-1938): Concerto in C für Orchester
Bernd Alois Zimmermann (1918-1970): Concerto pour violoncelle et orchestre en forme de „pas de trois“
Claude Debussy (1862-1918): „Prélude – l´aprés-midi d´un faune“
Maurice Ravel (1875-1937): „Daphnis et Chloé“ 2. SuiteDie geheimnisvolle Welt des Tanzes in der Moderne

In der beliebten Anrechtsreihe „Zauber der Musik“ ein ganzes Konzert dem 20. Jahrhundert zu widmen (wobei Debussys „Faun“ schon kurz vor der Jahrhundertwende entstand), beweist außerordentlichen Mut. Schließlich läuft der Veranstalter unter Umständen Gefahr, sein Publikum zu verprellen, das gerade in dieser Reihe mehr unterhalten als angestrengt werden möchte. Immerhin war das Haus fast voll, was bei solch einem Programm viel heißen will.

Gleich zu Beginn brach Fabio Luisi eine Lanze für seinen hierzulande völlig unbekannten und früh verstorbenen Landsmann Mario Pilati. Dessen Concerto in C ist ein wirklich merkwürdiges Werk. Es beginnt den erste Satz (Allegro cantabile, un poco maestoso) mit großen feierlichen Gesten im Tutti, die nicht wenig vom Charakter einer barocken Festouvertüre besitzen. Aber eben auch nur den Charakter, denn alles andere (Harmonik, Melodik, Instrumentation etc.) ist alles andere als barock.

Die Hörner unterbrechen die Einleitung durch ein rhythmisch-forciertes Motiv, das einige Bewegungen auslöst, welche aber kurz darauf in Form von sanften Flötenmelodien innehalten. Die Streicher und das Klavier (als Orchesterinstrument) übernehmen die ruhige Melodik, bevor sich das rhythmische Motiv im ganzen Orchester breitmacht, aber im Tutti allmählich seinen Charakter verändert und unmerklich ins festliche Anfangsgehabe zurückfällt. Nun sind es die Posaunen, die es plötzlich wieder ruhig angehen lassen, die Hörner integrieren die rhythmische Spezifik und mit Hilfe der Blechfraktion wird der Satz in einem strahlenden Allegro zu einem wieder festlichen Ende geführt (wohinter die Trompete noch einen leuchtenden Schlusspunkt setzt).

Das Schöne und gleichzeitig auch Merkwürdige an einem solchen Satz ist die heilige Einfalt seiner konfliktlosen Welt. Die gegensätzlichen Motive oder Charaktere lösen sich in einem Reigen seliger Geister miteinander ab, gehen teilweise in einander über und lassen allenfalls in einigen Übergangssituationen ein wenig Reibungsenergie spürbar werden. Das ist nicht anders im zweiten Satz, einem Adagio, der mit brütendem Hornmelos über gezupften Bass-Schritten einsetzt, der wunderbar rankende Streicher- und Bläserpassagen kennt und auch ein kurz eingeschobenes „Tripelkonzert“ mit Klavier, Violine und Viola nicht verachtet, der die ausufernde Melismatik der Solovioline sachlicher, aber nicht weniger zart durch das Klavier beantworten lässt, dessen polyphone Melodiennetze schließlich im allgemeinen Streichersegen münden, bevor die Hörner und Posaunen ihre gewichtigen Schlussintervalle über das Winke-Winke-Abschiednehmen der Violinen stülpen. Auch hier also eine heile Welt, in der regelmäßig wiederkehrende, skeptische Zwischenrufe der Trompeten und Posaunen durchaus beunruhigend wirken, ohne jedoch wirklich etwas „Schlimmes“ heraufzubeschwören.

Die Herausnahme des Dramatischen aus der Musik zugunsten von festlicher Repräsentation und tänzerischer Spiellust verweist ganz bewusst auf die Zeit des Barock. Und weil Tanz und Repräsentation sich keineswegs ausschließen, sind Konflikte hier gar nicht gefragt. Vielmehr ist der Versuch zu erkennen, eine alte musikalische Grundhaltung mit modernen musikalischen Mitteln neu aufleben zu lassen. Ein fürs Zeitalter der historischen Aufführungspraxis ungewohnter, keineswegs jedoch abwegiger Umgang mit der Tradition.

Dass sich das Repräsentative und das Tänzerische dennoch ins Gehege kommen können, deutet sich, wenn auch nur als Anflug einer Ahnung, im dritten Satz an (Allegro pesante e ben ritmo – Rondo alla tirolese). Derb und burlesk im Anfang assoziiert er folkloristische Tänze, zeigt aber dennoch eine starke Affinität zur deutschen Sinfonik, etwa den Scherzi eines Bruckner oder den Ländlern eines Mahler. Wie der auf den Anfang unmittelbar folgende Klavierpart jedoch bestätigt, bleibt alles mehr irdisch, mehr tänzelnd als dass religiöse Überhöhungen angestrebt würden. Dafür setzt Pilati das Volkstümliche nun in Kontrast zu dem plötzlich zurückkehrenden Prinzip der Festlichkeit, das in diesem Satz wieder eigenen Raum beansprucht, so dass sich hier ein Gegensatz zwischen profaner und repräsentativer, zwischen burlesker und höfischer „Tanzmusik“ anzubahnen scheint. Doch auch dieser Gegensatz ist trügerisch, will man das Ende nicht als einen Trugschluss betrachten, wo alle denkbaren Gegensätze mit Pauken und Trompeten „synthetisiert“ werden. Die Welt bleibt ein Spiel, die Musik ein Vergnügen und Konflikte, sollten sie angedeutet sein, waren nur ein Scherz. Das ist eine klare Absage an die spätromantische Ästhetik, aber sie bedient sich im Einzelnen – um sich sozusagen zu artikulieren – spätromantischer musikalischer Mittel. Und das ist ein reizvoller, aber eben auch merkwürdiger – im doppelten Wortsinn – Gegensatz.

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Pilatis Concerto war eine gelungene Ouvertüre zu einem ungewöhnlichen „Tanzabend“, denn alle weiteren Stücke waren im direkten oder übertragenen Sinn Ballettmusiken. So auch Bernd Alois Zimmermanns Cellokonzert, sofern man dessen Untertitel glauben darf, welches sich im Nachhinein als der eigentliche Höhepunkt des Konzertabends herausstellte.

Auch wenn programmatische Untertitel zu den 5 Sätzen eine Choreographie nahelegen, gibt es auch sehr interessante, rein musikalische Ereigniszusammenhänge, auf die eine konzertante Darbietung natürlich besser die Aufmerksamkeit lenkt. Allein schon die Instrumentation darf ein eigenes Kapitel in einer möglichen Abhandlung zu diesem Stück beanspruchen, denn so prähistorische Instrumente wie das Zymbal (ein ungarisches Hackbrett, auch „Cembalo ungarico“ genannt, welches mit Klöppeln geschlagen wird), die Balalaika und die Glasharfe (eine Vorform der Glasharmonika, bei der stehende Glasschalen durch Reiben mit den Fingern zum Klingen gebracht werden) sind mit so modernen Instrumenten wie der Bassgitarre und einem elektroakustisch verstärkten Kontrabass (neben natürlich dem ganzen modernen Orchesterapparat plus Cembalo, Klavier und ausgiebig vertretenem Schlagzeug) im Orchester vereint.

Das Werk beginnt mit sphärisch ungreifbaren und zudem exotisch anmutenden Klängen, die die Luft zum Knistern bringen. Vor diesem Hintergrund erscheint das Spiel des Solocellos zunächst wie ein mikrotöniges Schwanken und Seufzen, das noch keinen Halt in eigenen und festen Tönen findet. Inmitten des ganzen exotischen und historischen Instrumentariums, des breiten Spektrums an Möglichkeiten für gezupfte und geschlagene und gestrichene Saitentöne, muss sich das Soloinstrument erst auf die Suche nach der eigenen Identität begeben. Das bestätigt sich, wenn in der Folge das Zymbal dem Cello die Solistenstelle streitig macht. Erst mit Unterstützung des Schlagzeugs – und dann sozusagen mit Gewalt – gelingt es dem Cello sich durchzusetzen. Doch wenn es im zweiten Satz dann auch zu richtigen Melodien findet, fällt ihm das eigene Orchester immer wieder ins Wort. Nun bedarf es der Unterstützung durch Solovioline und -viola, aber der eigentliche Durchbruch gelingt erneut erst mit Hilfe des Schlagzeugs und erstaunlicherweise im Trio mit der Bassgitarre – also in klassischer Combobesetzung. Danach reicht der Mut sogar für ein leicht angejazztes Solo.

Offensichtlich geben erst die Rhythmusinstrumente und die körperliche Direktheit von Tanzformen dem Cello das nötige Gewicht, um auf dem Boden der Tatsachen Halt zu finden. Demgegenüber locken die exotischen Klänge zwischen Glasharfe, Balalaika und Zymbal wie Sirenengesänge, sich in der Schwerelosigkeit zu verlieren. Ganz ähnlich ist es auch im zentralen dritten Satz (Adagio, „Les trois cygnes blancs“ – eine Anspielung auf das berühmte „La Cygne?“), der durch faszinierend entrückte Töne betört, denen sich das Cello erst durch ein tänzerisches Solo entreißen muss. Wenn dagegen im vierten Teil das „Tempo die marcia“ überaus martialisch daherkommt, fügt sich das Cello problemlos ein. Hier, wo eine Art Militärmarsch wie ein Synonym für den Eurozentrismus daherkommt, ist es zu Hause.

Und doch gelingt schlussendlich im fünften Satz auch Zimmermann, und das auf ganz überraschende Weise, die Entdeckung einer höheren Einheit. Er findet sie ausgerechnet im Blues. Aber, um es gleich vorweg zu nehmen, es ist ein durchaus sublimierter Blues, eher ein Blues im übertragenen Sinne, der als ein übergeordnetes Prinzip die vor allem im Rhythmisch-Tänzerischen fündig werdende Identitätssuche des Cellos und die die abendländische Identität in Frage stellende Orchesterexotik des bis in die mikrotonalen Dimensionen reichenden melodischen Geflechts auf eine ganz wunderbare Art vereint. Es sind wieder die Klänge des Anfangs, die den nun elektrisch verstärkten Kontrabass, das Klavier und später auch das Zymbal sphärisch umhüllen. Diese Klänge sind im weitesten Sinne den „Streichern“ zu verdanken (zu denen nun auch die gestreichelten Gläser der Glasharfe und die gestrichenen Becken des Schlagzeugers gehören), während der gezupfte Bass, das Klavier und das Zymbal sowieso in dem Fall mehr zu den Schlaginstrumenten tendieren, die zudem jene Sphärenharmonien in der „richtigen Temperatur“ gerinnen lassen. Das bereitet den Weg für das Solocello, sich nun endlich als Melodieinstrument zu bekennen. Und plötzlich tauchen auch andere Soloinstrumente auf: das Saxophon intoniert den Blues und der ist klassisch-melancholisch-melodisch. Zu solchen Soloeinlagen sind nun auch Klavier und Bass fähig, aber der eigentliche Höhepunkt ist dann ein wunderbar behutsames Duett zwischen Cello und (nunmehr akustischem) Kontrabass.

Wie der Blues als die Synthese von Rhythmos und Melos, von Tanz und Gesang zu verstehen ist, macht das letzte große Cello-Solo deutlich, wo diese Grundelemente in vollendeter Form zusammengebracht werden, bevor eine Coda – noch einmal in Gestalt einer swingenden Combo – einen optimistischer Ausblick auf die Zukunft der Musik gibt (aber auch wieder nie derb, sondern durchweg sacht und zart), was, nebenbei bemerkt, im Hinblick auf die folkloristischen Elemente bei Blues und Jazz auch ein Blick zurück zu den Wurzeln des Musizierens ist.

Zimmermanns Komposition ist ein so komplexes Gebilde, dass ein Beschreibungsversuch wie der vorangegangene allenfalls ein dünnes Fädchen in dem Geflecht von Anspielungen und Zusammenhängen sein kann. Dass dieses Werk andererseits aber auch einlädt, seine Ereignishaftigkeit durch plastische Ausdeutungen nachzuvollziehen (oder gar in Form eines Balletts augenscheinlich zu machen), gibt ihm eine große suggestive Kraft. Da Zimmermann außerdem die Kunst beherrscht, die feinsten klanglichen Nuancen mit einem so großen und vielfältigen Orchesterapparat zu gestalten, ohne dass in irgend einem Moment die Spannung nachlässt, ließ dieses Konzert, zumal in seiner fabelhaften Darbietung durch alle Beteiligten, als ein ganz großes und repräsentatives Werk für die Kunst des vergangenen Jahrhunderts erscheinen.

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Da man über die Werke von Debussy und Ravel, die beide zu den bekanntesten dieser Komponisten gehören, nicht viele Worte verlieren muss, sei die Gelegenheit genutzt, noch kurz auf die Interpreten einzugehen. Die hohe Klangkultur, die das Orchester schon bei der Komposition von Zimmermann bewies, lässt sich an der französischen Musik dieser Zeit besonders gut demonstrieren. Neben den vielen wirklich traumhaft schönen Soli war beeindruckend, wie es Luisi immer wieder schafft, dynamische Abstufungen so zu gestalten, dass das Orchester auch im Pianissimo und auch nach einer Spielpause immer wieder genau den Ton des Solisten trifft. Sei es, um ihn abzulösen, sei es, um ihm durch Rücknahme der Dynamik Raum zu eröffnen. Ansonsten ist Luisi ein Künstler der Bewegung. Mit seinem Dirigierstab wirkt er mitunter wie ein Maler, der mit großen Gesten Ereignisse skizziert oder auch ausmalt. Das ist allein schon optisch ein Genuss. Mal lässt er den Orchestersound wogen und weichen, mal verharrt er auch in ein und derselben Lautstärke, um einen Klang auf der Stelle treten zu lassen als ob er die Zeit anhalten wolle. Und die Musiker im Orchester folgen jeder Nuance seiner Handbewegung. Lassen sich fordern von dem stets engagierten und um jedes Detail ringenden Dirigenten. So gelingt im Ravel das langsame Anwachsen der kumulierenden Klänge und es gelingt auch der unglaubliche Sturm am Ende in völliger Beherrschung und ohne jede Entgleisung. Das alles ruft beim Publikum spontane Bravos hervor.

Wenn man bedenkt, dass das Gewandhaus Tags zuvor eines seiner interessantesten Konzerte abgesagt hatte (ebenfalls mit Werken von Bernd Alois Zimmermann, mit Olivier Messiaens „Oiseaux exotiques“ für Klavier und Orchester und mit Richard Strauss´ „Fröhlicher Sonatine“, mit Lothar Zagrosek als Gastdirigent und Steffen Schleiermacher als Solist) und dies – wie aus sicheren Quellen zu erfahren war – schon im Januar, weil der Vorverkauf zu schlecht angelaufen war (was im Übrigen die totale Kapitulation vor dem Publikumsgeschmack bedeutet), dann kann man ein solches Konzert nicht hoch genug einschätzen. Und Luisi hat gezeigt, dass es auch anders geht. Zwar ist es noch immer Fall, dass der Hustenreiz direkt proportional zur Schwierigkeit des gerade aufgeführten Werks ist und dass dabei auftretende Dissonanzen in der Musik von manchen als Freibrief betrachtet werden, ganz ungeniert mit Hustenbonbonpapier zu rascheln und laute Fragen zu stellen. Aber dennoch zeigt die Aufgekratzheit und Diskutierfreudigkeit des Anrechtpublikums nach dem Konzert, dass es die Herausforderung eines solchen Programms durchaus angenommen hatte. Und dies ist der vielleicht schönste Erfolg, der zudem Hoffnung gibt, dass diese Art von Programmgestaltung vielleicht dereinst auch beim Hörer Geschmack finden wird.

(Marcus Erb-Szymanski)

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