Gewandhausorchester spielt Schubert und Tschaikowski (Marcus Erb-Szymanski)

08. März 2001, Gewandhaus Großer Saal, Gewandhausorchester

Dirigent: Herbert Blomstedt, Solist: Mikhail PletnevFranz Schubert: Sinfonie Nr. 6 C-Dur D 589Peter Tschaikowski: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 G-Dur op. 44Feuer, Wasser, Sturm

Nennen wir die erste Hälfte des Konzerts den Vormittag und die zweite den Nachmittag, dann war es ein ziemlich diesiger Konzertvormittag. Dabei ist Schuberts Musik durchaus freundlich. Kein „Lächeln unter Tränen“ wie bei Mozart, sondern wirklich heiter bis wolkig, aber ohne Regen. Doch wenn schon der erste Akkord nicht richtig sitzt, die Bläser irgendwie trübe klingen und sich das Ganze dann eher mühselig dahinschleppt, bleibt das Gemüt von Nebelschwaden umhangen. Erst im vierten Satz reißen diese ein wenig auf, die Sonne lächelt hindurch und man bekommt eine Ahnung davon, was die frühe Schubert-Sinfonik sein könnte: ein langsames Hinaufsteigen, ein Boden unter den Füßen Verlieren, ein schwerelos Werden. Und hat man als Hörer erst einmal begonnen, genug Luftwiderstand unter sich zu spüren, verringert sich die Gefahr, wieder abzustürzen, selbst wenn sich manche Seitenthemen etwas derb und burlesk zusammenziehen und einen wieder auf den Boden der Tatsachen bringen möchten. Doch was sich da zusammenbraut, ist von ganz anderer Art und wird später als Sturm in Gestalt von Tschaikowskis zweitem Klavierkonzert noch über uns hinwegfegen.

Peter Tschaikowski und Herbert Blomstedt sind zwei Dinge, die überaus gut zusammenpassen. Diese Musik lockt den bei Schubert mehr phlegmatischen Dirigenten völlig aus der Reserve und scheint ihm feurige Nahrung zu sein. Sie ist aber auch in diesem Konzert wie ein Riese, der sich reckt und dehnt, um noch größer zu werden als er so schon ist. In ihr steckt eine Emphase, die überschwänglich auf etwas hinweist, was nicht in den Noten steht. Oft genug jedenfalls entsteht der Eindruck, dass die Form den Inhalt nicht mehr fassen kann und ihn überschwappen lassen muss. So gönnt schon der Beginn weder dem Hörer noch dem Solisten eine Atempause. Letzterer muss warten, bis ihm das Orchester gnädig das Wort überlässt. Nicht Wechselwirkung, sondern Alternation bestimmt zunächst das Zusammenspiel zwischen Orchester und Klavier. Andererseits wirken die Solokadenzen mehr und mehr wie Reflexionen und Reminiszenzen, kurz wie ein Nachhall des bisherigen Geschehens. Und eine Wende setzt ein, wenn derartige Grübeleien sich zu virtuosen Ausbrüchen steigern, in denen sich pure Natur die Bahn bricht. Dann ist es plötzlich das Orchester, das auf den Solisten reagiert, um seine Intentionen triumphal zu bestätigen, und Mikhail Pletnev haut denn auch rein, dass sich der Flügel biegt (und aufgrund einer gerissenen Saite nach dem Satz ambulant behandelt werden muss).

Es ist nur ein Intermezzo, wenn der zweite Satz am heimischen Kamin in Salonatmosphäre durch schmachtende Violin- und Cellosoli das wilde Naturgeschehen vergessen lassen will. Gewitter und Sturm, das ahnt man, toben draußen weiter. Und tatsächlich, so wie Blomstedt und Pletnev den dritten Satz angehen, ist es eine wilde Jagd. Ein seltsam makabrer Galopp des Klaviers mit grellen, fast schon grotesken Bläsereinsätzen. Dazu der mitunter unheimlich gedämpfte Ton des Orchesters und die scheinbar triviale, hohle Melodik. Als würde Gevatter Tod auf einem klapprigen Klepper durch die Dämmerung reiten. Aus dieser Sicht finden sich hier schon Elemente, die später für Schostakowitsch zum Markenzeichen werden. Dieser Satz hat aber darüber hinaus auch alles, was ein bravouröses Finale braucht. Ein virtuoses Einvernehmen zwischen Klavier und Orchester und ein Finale, das in mehrmaligem Anlauf dem Pianisten genug Zeit zum Austoben lässt. Was Wunder also, wenn das Leipziger Publikum dem Solisten zu Füßen liegt (ein anderes Wort für „stehende Ovationen“), zumal wenn er berühmt und sich nicht zu fein ist, den Schluss noch einmal zu wiederholen.

(Marcus Erb-Szymanski)

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