Edvard Grieg, Henrik Ibsen: Peer Gynt (Lothar Schmidt)

11. März 2001, Gewandhaus

Edvard Grieg, Henrik Ibsen: ?Peer Gynt?

Musik op. 23 zur dramatischen Dichtung, Fassung für den Konzertgebrauch nach der Übersetzung von Christian Morgenstern von Klaus Maria Brandauer und Thomas Hengelbrock

Ausführende: siehe unten


Über die wunderbare Auferstehung einer untergegangenen Kunstform

?Ibsen verkürzt und zusammengeschustert, ein radikal modernes Drama durch die Musik verkitscht!? ? ?Grieg ironisiert, ins Häßliche und Schwülstige aufgespreizt!?. Hätte Rezensent an einem solchen imperativen Gespräch eines Ibsen-Enthusiasten und eines Grieg-Liebhabers teilgenommen, wäre seine Erwiderung gewesen: ?Nein, nein! Eine rundum gelungene Sache!?

Klaus Maria Brandauer, eine Gruppe junger Schauspieler, das Sinfonieorchester des MDR unter Leitung von Ralf Weikert, der Rundfunkchor des MDR, Elizabeth Magnusson und Liliana Nikiteanu als Gesangssolistinnen boten vielen vieles. Vor allem boten sie dem Publikum, was im Theater selbst heute kaum mehr möglich ist, einen Eindruck von Zusammen- und eben auch Gegeneinanderwirken von Schauspiel und großen Apparat erfordernder Musik. Brandauer hat bereits vor einiger Zeit in Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Thomas Hengelbrock eine Fassung von Ibsens ?Peer Gynt? mit Griegs Schauspielmusik erarbeitet und an verschiedenen Orten aufgeführt. Dabei konnte man sich, was die Musik angeht, auf die neue Edition der Schauspielmusik in der im Peters-Verlag erschienenen Grieg-Gesamtausgabe (Band 18 von 1988) stützen. Griegs Musik zu ?Peer Gynt? war auf Anregung Ibsens für die Uraufführung von 1876 enstanden. ?Peer Gynt? war zuvor nur als Lesedrama bekannt. In seinem Brief vom 23. Januar 1874, mit dem Ibsen Grieg einlud, die Musik zu schreiben, machte der Dichter recht weitgehende Vorschläge für die Komposition, auf die sich Grieg wenigstens zum Teil einließ. Es entstand eine Fülle von Musik vor und zwischen den Akten, von musikalischen Einlagen mit Liedern und Tänzen, von die Szene illustrierender Musik und Melodramen. Für spätere Aufführungen nahm Grieg Änderungen vor, und er faßte acht Stücke zu den zwei beliebten ?Peer Gynt?-Suiten für den Konzertgebrauch zusammen. Eine Ausgabe der Schauspielmusik selbst erschien erst kurz nach Griegs Tod im Druck. Sie wurde den Intentionen des Komponisten kaum gerecht, fand aber Eingang in die Praxis. Nach dem zweiten Weltkrieg ist die Schauspielmusik jedoch aus allbekannten institutionellen und anderen theatergeschichtlichen Gründen aus der Aufführungspraxis verschwunden, die Suiten sind abgesunken in die Sphäre des Wunschkonzerts und der Begleitmusik zu Fernsehbildern.

Die Gesamtausgabe versammelt insgesamt 26 musikalische Nummern, die in der Aufführungsgeschichte wohl selten vollständig dargeboten wurden. Brandauers und Hengelbrocks Fassung schließt 21 Nummern ein. Ein Großteil der Musik war also zu hören, von großen Stücken entfiel nur Gynts Serenade, die aber auch kaum sinnvoll eingefügt werden konnte. Der Text erfuhr im Rahmen der gut zweistündigen Aufführung notwendig die stärksten Kürzungen. Sie wurden zum Teil überbrückt durch kurze neu geschriebene Erzählpassagen, die sich ganz unauffällig in Ibsens Text in der Übersetzung von Christian Morgenstern einpaßten. Rein rezitatorische Phasen wechselten mit großen Abschnitten, die von der Musik eng zusammengebunden wurden. Es entstand z.B. ein großer musikalischer Bogen vom Ende der Begegnung mit der Grüngekleideten (II,5) über die Ereignisse in der Halle des Bergkönigs (mit der Tanz- und Trollmusik), die für das Schauspiel zentrale Begegnung mit dem Krummen (II,7; großes Melodram), Aases Tod (die aus der ersten Suite bekannte Musik nach Griegs Anweisung als Vorspiel zum III. Akt und als Hintergrundmusik zur gesprochenen Sterbeszene, III,4) bis zum Beginn der Marokkohandlung im IV. Akt, in einem durchaus gelungenen Kunstgriff durch die vorgezogene Musik der Memnon-Säule markiert, während die berüchtigte ?Morgenstimmung? (von Grieg gedacht als Vorspiel zum IV. Akt, aber bereits in der Uraufführung wegen einer Kürzung mit Griegs Einverständnis an dieser Stelle) erst als Zäsur nach der ausführlichen, rein rezitatorischen Szene mit den Reisenden eingesetzt wurde. Überhaupt können sich Brandauer und Hengelbrock bei ihrer Einrichtung des Schauspiels auf Ibsen berufen, der im Blick auf die Aufnahme der von Grieg zu schreibenden Schauspielmusik starke Kürzungen des ohnehin umfangreichen Textes vorgesehen hatte. Aus der gemeinsamen Arbeit des Schauspieler-Regisseurs und des Musikers ist ein Produkt entstanden, das eine untergegangene Kunstform auf sehr gekonnte Weise wieder zugänglich macht. Kein Museumsprodukt, sondern eine höchst lebendige Angelegenheit, die neugierig macht auf ähnliche Unternehmungen.

Nun zur Leipziger Aufführung selbst: Sie war ganz ausgezeichnet. Brandauer bot als Gynt, was man von ihm erwarten durfte. Die Rolle des phantastischen Egozentrikers paßte wie angegossen. Er war eingefaßt von den acht jungen Rezitatoren, die wechselnde Rollen übernahmen. Das Ganze war etwas statuarisch angelegt, einer konzertanten Aufführung angemessen. Daß das szenische Moment weitgehend entfiel, wurde ausgeglichen durch die große deklamatorische Kunst der Beteiligten. Die Szene mit den vier Reisenden am Beginn des vierten Aktes, die recht ausführlich gegeben wurde, bot den jungen Rezitatoren reichlich Gelegenheit zur Produktion, geriet aber doch etwas klamaukhaft. Von Liliana Nikiteanu hätte man sich gerne ein zweites Lied Anitras angehört, das konnten Ibsen und Grieg nun aber nicht wissen. Dem Chor kommt ein recht großer Anteil an der Schauspielmusik zu. Er hat seine Aufgabe glänzend bewältigt. Howard Arman, der die Einstudierung übernommen hatte, wählte etwa im Pfingstlied, das zusammen mit Solveigs Wiegenlied dann auch den Schluß des Schauspiels bildet, genau den richtigen, einen unsentimentalen, fast kühlen Ton. Die Chorsolisten überzeugten, ja die drei ?Säterinnen? brillierten geradezu in ihrer großen Szene im ersten Akt. Das Orchester unter der Leitung des hervorragenden Gastdirigenten Ralf Weikert spielte präzise und inspiriert, in den Trollszenen mit der erforderlichen schneidenden Schärfe, die ? sehr angemessen ? knapp bis ans Häßliche reichte. Ein Abend ohne ?alte Schweden?, ?junge Russen? und ?Gewandhäusler?, aber ein sehr gelungener Abend. Nur schade, daß es bei der einen, vollständig ausverkauften Aufführung blieb. Wer sie nicht hören konnte oder sie nochmals hören möchte, der sei auf die Ausstrahlung des Mitschnitts am 29. April (MDR Kultur, 19:30 Uhr) verwiesen.

(Lothar Schmidt)

Ausführende: MDR Sinfonieorchester, MDR Rundfunkchor
Dirigent: Ralf Weikert
Solisten: Klaus Maria Brandauer (Peer Gynt, Erzähler)
Marianne Hamre, Maria Hengge, Birgit Minichmayr, Stefanie Dvorak, Johannes Zirner, Paul Siegmund, Patrick Oliver Beck, Felix Rech (Rezitation)
Elizabeth Magnusson, Sopran (Solveig)
Liliana Nikiteanu, Mezzosopran (Anitra)
Sibylle Neumüller, Sopran, Chorsolistin
Dana Harnge, Sopran, Chorsolistin
Anna Rad-Markowska, Sopran, Chorsolistin
Ekkahard Pansa, Baß, Chorsolist
Matthias Hoffmann, Baß, Chorsolist
Lichtregie: Christian Weisskircher
Choreinstudierung: Howard Arman

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.