musica nova, 4. Konzert, Ensemble Avantgarde (Marcus Erb-Szymanski)

14. März 2001 Gewandhaus Mendelssohn-Saalmusica nova, 4. Konzert

Ensemble Avantgarde mit:
Ralf Mielke – Flöte
Stefan Stopora – Schlagzeug
Steffen Schleiermacher – Klavier
Josef Christof – Klavier
Leipziger Streichquartett

Olivier Messiaen – Piéce pour piano et quatuor – cordes
Pierre Boulez – Sonatine für Flöte und Klavier
Olivier Messiaen – L´Alouette-Lulu
Iannis Xenakis – Rebonds
Iannis Xenakis – Paille of the Wind
Pierre Boulez – 3. Klaviersonate
Olivier Messiaen – La merle noir
Iannis Xenakis – AkeaGestaltwerdungen aus der klanglichen Ursuppe

Gedanken zum jüngsten Musica nova Konzert

Es ist schon komisch, wenn ein Komponist wie Boulez seine Stücke mit „Sonatine“ betitelt. Will er hier einer altehrwürdigen Form mit seinen extrem modernen Praktiken eins auszuwischen?

Nach einem ruhigen Einstieg, verliert sich das Werk in einer Folge kurzer und abgehackter, fast punktueller Tonereignisse, die sich erst im weiteren Verlauf zu immer größeren Einheiten sammeln. Dabei zeigt sich das Klavier virtuoser als die Flöte und erstellt für diese eine Art wechselnden Klanghintergrund, der neben stark expressiven Gesten vor allem auch impressionistische Bilder malt. Fast könnte man von einer impressionistischen Kulisse sprechen für ein Instrument, das als „Syrinx“ sowieso Signalwirkungen bezüglich dieses Stils besitzt. Nachdem sich der „Pointillismus“ zum „Impressionismus“ verdichtet hat, setzt plötzlich eine in diesem Kontext überraschende Phase ein, die aufgrund ihrer rhythmischen Kontinuität eindeutig Züge eines „Scherzos“ trägt. Diese „Scherzo“-Passage kehrt zweimal wieder und umrahmt dabei Versuche der Flöte, zu den mehr ruhigen Anfangstönen zurückzufinden. Dies verhindert jedoch das Klavier, indem es die melodischen Ansätze der Flöte zunächst mit Wolken verhängt, und später den Angeboten zu einem Duett mit immer unruhiger und explosiver werdenden Ausbrüchen aus dem Weg geht. So endet das Ganze schließlich in einer wilden Klangeruption wie ein Vulkanausbruch.

Die Art, wie Boulez hier andeutungsweise herkömmliche Mittel und Anspielungen geschickt und zugleich auch mit einer gewissen Boshaftigkeit ins Werk bringt, macht die Flötensonatine zu einem ungemein lebhaften und interessanten Stück, das gerade heute, wo die wilden Jahre der Neuen Musik schon klassisch geworden sind, ansprechender scheint als so manches in formaler Hinsicht konsequenter ausgereiztes Paradestück.

„Es war die Heidelerche und nicht die Nachtigall“, die Olivier Messiaen in seinem Opus „L´alouette-Lulu“ aus seiner ornithologischen Klavierenzyklopädie „Catalogue des Oiseaux“ verewigt hat. Mit einem Stück „Musique concréte“ als Prolog (einer angeblichen Originalaufnahme von einer Heidelerche aus dem Leipziger Auenwald, vielleicht aber auch einer Raubkopie von der legendären Plattenreihe mit Vogelstimmen aus Wald und Flur) wird Josef Christof auf eine nächtliche Reise geschickt. Dass es eine solche ist, machen die Worte deutlich, die Messiaen selbst der Komposition voranstellte und die Steffen Schleiermacher so freundlich ist, zu verlesen. Da wird erzählt vom mitternächtlichen Erlebnis solchen Vogelgesangs, und so hörte man nun förmlich die Anfangsakkorde sacht durch die Nacht schreiten. Mehr und mehr werden sie vom glockenreinen Gesang eines Vögelchens verzaubert, hinter dem sich eine eigene und geheimnisvolle Welt auftut. Diese umfängt den nächtlichen Wanderer bald vollends, bis sich schließlich – Mitternacht ist vorüber – die Wege langsam wieder trennen und nur noch ein leiser Nachruf die heimkehrenden Schritte begleitet.

Iannis Xenakis, dem das Ensemble wegen seines plötzlichen Todes im Februar das Konzert kurzfristig widmete (ursprünglich war statt eines Nekrologs ein Geburtstagsständchen für den im letzten Jahr 75 gewordenen Pierre Boulez geplant gewesen), gehört zu den wenigen Avantgardisten, die es geschafft haben, trotz streng kalkulierter Strukturen, ihre Hörer immer wieder ganz unmittelbar zu faszinieren. Dies hängt vor allem mit der rhythmischen Wucht seiner Musik zusammen und mit dem häufig angewandten Prinzip, homogene Bewegungsabläufe allmählich auseinander driften zu lassen, bis schließlich eine Komplexität erreicht ist, die das sinnliche Fassungsvermögen übersteigt. Dann aber kehrt er allmählich zum Anfangszustand zurück, so dass einerseits die sinnlichen Kapazitäten voll erschöpft werden, andererseits aber auch hinter all dem eine Konzeption, ein geistiges Programm sichtbar wird, das dem Hörer seine Identität und der Musik ihre Kunst gegenüber einer übermächtig scheinenden Natur zurückgibt. Dies erinnert übrigens stark an die ästhetische Kategorie des Erhabenen, die vor gut 200 Jahren ein fester Bestandteil der Philosophie der Neuen Musik gewesen ist. Ein im Übrigen interessantes Beispiel dafür, dass mit dem künstlerisch-technischen Fortschritt nicht zwangsläufig auch die alten ästhetischen Ideale verlustig gehen müssen.

„Akea“ für Klavier und Streichquartett beginnt mit einem einheitlichen Klang, der in Einzelstimmen aufbricht, setzt das Geschehen durch einen penetranten Marschrhythmus des Klaviers fort, der im weiteren Verlauf ebenfalls in Einzelstimmen (der Streicher) dissoziert, nur dass der Klangraum jetzt durch den andauernden Klavierrhythmus Gestalt gewinnt. Nach einer Unisono-Zäsur zerfällt jedoch alles in chaotisch und offenbar aleatorisch agierende Soli, die zischend in einer klanglichen Ursuppe münden aus der sie dann immer wieder brodelnd aufsteigen. Inmitten dieses allgemeinen Gärens entstehen neue gemeinsame Zäsuren, die nunmehr ein Raster abgeben für die zwischenzeitlich weiter freie Spielweise. Aber dieses grobrastrige Bild verfeinert sich in der Folge immer weiter zu einem quasi-unisono spielendem Steichquartett, das seinerseits wieder ein vollmundiges Klaviersolo auf den Plan ruft. Unterstützt von den Streichern erweitert sich der Klang, erreicht ein größeres Volumen und endet schließlich in einem geläuterten Unisono – der Anfang ist wieder erreicht, wenn auch freilich auf einer höheren Qualitätsstufe oder, um mit modernen Ausdrücken zu reden, auf einem höheren Energieniveau.

In einem Vortrag, der der vom Komponisten selbst uraufgeführten 3. Klaviersonate vorausging, hat Pierre Boulez einiges zu diesem Monstrum der klassischen Gattung gesagt und dabei auch auf das Neue gegenüber der herkömmlichen Form hingewiesen. So seien beispielsweise in der traditionellen Musik allenfalls Bezüge zwischen musikalischen und außermusikalischen Zeichen möglich, weil es nicht zum Wesen der Musik gehöre, auf etwas anderes Musikalisches zu verweisen, sie sei eine „nicht-meinende Kunst“ (was, nebenbei bemerkt, durchaus nicht so hingenommen werden muss, schließlich ist jede musikalische Floskel uns nur deshalb verständlich, weil wir sie als Artgenosse einer Fülle von ähnlichen Floskeln identifizieren, die ihrerseits wieder auf die ganze Tradition einer so gewachsenen Stilistik verweisen, was auch der Grund ist, weshalb man sich fast immer sowohl mit der Musik fremder Kulturen als auch mit der eigenen Avantgarde äußerst schwer getan hat). Nun sei es für ihn, Boulez, eine Herausforderung, Formen der modernen literarischen Bestrebungen, und er nennt da – 1959 – Joyce und Mallarmé, auf die Musik zu übertragen und zwar so, dass sich innerhalb eines Werks die einzelnen Elemente aufeinander beziehen, auseinander hervorgehen und in gewissem Sinne wechselseitige Interpretationen darstellen. „In diesem Sinne sollte, in meinen Augen, die Musik nicht allein dazu bestimmt sein, „auszudrücken“, sondern sie sollte sich ihrer selbst bewußt und der Gegenstand ihrer eigenen Reflexion werden.“ Damit würde die Form evolutionär, sie würde ihre Linearität verlieren, ihre gerade Entwicklung von einem konventionell bestimmten Anfang zu einem vom Komponisten wie Hörer vorab kalkulierbaren Ziel und Ende. Nun träte das Labyrinth an die Stelle der überschaubaren Architektur. Aber auch ein solches Labyrinth sei keines, das einem speziellen Bauplan entspreche, sondern eher der Reflex auf die vorsichtig tastenden Versuche, sich wie ein Tier (und dies nun in Anspielung auf eine Erzählung von Kafka) unter der Erde Gänge zu graben, die sich in ihren verschiedensten Richtungen gegenseitig widersprechen, aber auch bedingen, in die Irre führen, aber auch aufeinander verweisen, die auf einander zu und zugleich von einander weg führen, die aber letztendlich in ihrer Gesamtheit eben doch wieder so etwas wie einen „Bau“ ausmachen.

Boulez hat in seiner mehrsätzigen „Sonate“ verschiedene, teils mittelalterliche „Bauweisen“ aufgegriffen und versucht, moderne Klangstrukturen nach deren Prinzip zu entwerfen. Es handelt sich dabei tatsächlich um Entwürfe, deren konkrete Ausführung dann dem Interpreten überlassen bleibt. Was Boulez dabei tatsächlich macht, ist das Abstecken eines klanglichen Feldes, eines prädeterminierten Rahmens von Möglichkeiten, die aber im Einzelnen nicht determiniert sind. Es handelt sich also nicht um ein Feld im geographischen, sondern eher im physikalischen Sinne. Es lässt sich mit einer großen Zuverlässigkeit angeben, welchen Arten von Klängen und Klangstrukturen wir begegnen werden, aber es lässt sich niemals voraussagen, welcher konkrete Klang zu welcher konkreten Zeit eintritt. (Ähnliche Bestrebungen finden sich in vielen Werken dieser Zeit und sind Ausdruck der Suche nach einer objektiven, vom subjektiven Empfinden nicht beeinflussten Klangwelt.) Indem die Form sich in einem auf diese Weise angelegten Stück sozusagen von selbst entwickelt, werde sie autonom und der Komponist anonym: „Wenn es einen tiefen Beweggrund für das Werk gibt, das ich zu schreiben versucht habe, dann ist es die Suche nach einem solchen Anonymat.“

Für die Komposition selbst ist es nicht unbedingt leicht, mit einer derartigen konzeptionellen Hypothek belastet zu sein. Und der gewaltige Versuch, die konkrete Gestaltwerdung einer als autonom und objektive gefeierten Klangwelt in der jeweiligen Aufführung als formale Singularität zu behaupten, zwingt nun auch den Rezipienten in Gestalt des Rezensenten zu einigen ganz persönlichen Worten. Denn wenn wir es genau betrachten, so bedeutet die Metamorphose des Komponisten zum „Anonymat“ doch nichts anderes, als dass lediglich die Verantwortung für die Form an den Interpreten weiterdeligiert wird. Und da sei mir nun ein kurzer Vergleich gestattet, denn in Leipzig hatten wir das Glück, Steffen Schleiermacher fast auf den Tag genau vor einem Jahr diese Sonate schon einmal aufführen zu hören. Am 14. März 2000 stellte er in einem Konzert im Mendelssohn-Haus Klaviermusik der Darmstädter Schule vor. Nach Werken von Messiaen, Stockhausen, Franco Evangelisti und Aldo Clementi wurde der Abend durch Boulez´ 3. Klaviersonate gekrönt.

Und damals hatte ich den Eindruck, als hätte Schleiermacher mit seiner Interpretation eine ganz bestimmte Konzeption verfolgt. All die verschiedenen klanglichen Elemente, die bei Stockhausen, Evangelisti und Clementi teilweise separat auftraten, wurden nun bei Boulez in einer entwickelnden Form vereinigt, wobei alles vom Einzelton seinen Ausgang nahm, verschiedene klangliche Muster exzerpiert wurden (so die Entgegensetzung von Punkten und Clustern wie bei Stockhausen, wie bei ihm die Singularität des Einzeltons, der die Gewalt eines Meteoriteneinschlags bekommt), die Dynamik und Anschlagsintensität eine eigene Bedeutung bekam (wie zuvor bei Clementi, wo motivische Zusammenhänge nicht mehr durch die zeitliche Nachbarschaft von Tönen, sondern durch deren Lautstärkegrad bestimmt wurde) und schließlich auch der Nachhall als ein eigenes Element mit integriert wurde (so auch in diesem Konzert bei Evangelisti). Später lösten sich diese Elemente nach und nach wieder auf bis am Ende der Einzelton zurückblieb als das Alpha und Omega der Klaviermusik. So gesehen oder besser, so gehört, war das Erlebnis dieser Sonate in der Interpretation von Steffen Schleiermacher ein überaus eindrucksvolles Erlebnis.

Doch diesmal fehlte (Herrn Schleiermacher oder meinem Rezeptionsvermögen!) eine solche Konzeption. Freilich waren auch in diesem Musica nova Konzert alle Elemente dieses Werks wieder hübsch beisammen, rhythmische Punkte, plötzliche Lagenwechsel, Töne, die sich durch Liegenbleiben von Tasten und Pedal zu Klängen vereinen, ein Nachhall, der zu einem echohaften Raunen aus den tiefsten Tiefen anwächst, Cluster in den tiefen, Arabesken in den hohen Lagen. Aber keine richtige Entwicklung, keine wechselseitige Bezugnahme der verschiedenen Ausdrucksweisen, sondern mehr ein Fließen der sich mit statistischer Regelmäßigkeit ereignenden Wiederholungen mit bedeutsamen Pausen als ihrem Flussbett.

Nun kann man weder Herrn Schleiermacher noch meinem Rezeptionsvermögen einen Vorwurf machen, wenn in einem solchen Stück keine klare Konzeption sichtbar wird, denn eben diese Möglichkeit gehört ja auch zur Form des Stücks dazu. Aber dennoch kommt man – gerade wegen des von Boulez selbst publizierten theoretischen Hintergrunds – ins Grübeln: selbst wenn die Verantwortung für die Deutung und Gestaltwerdung des im Notentext entworfenen Klangspektrums vom Komponisten auf den Interpreten und vom Interpreten womöglich auf den Rezipienten übertragen wird, so ganz ohne zwingende Ausdeutung wirkt auch und gerade solch ein Werk irgendwie belanglos und unbefriedigend.

(Marcus Erb-Szymanski)

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