Maxim Gorki: „Sommergäste” (IanSober)

19. März 2001

Schauspiel Leipzig, Neue Szene

Gorkis „Sommergäste“ in der Neuen Szene

Wie man weiß, wird in Rußland die Kunst der Alltagsphilosophie gepflegt, so auch in Gorkis „Sommergästen“, einem Diskussionsstück mit einer Vielzahl sich parallel entwickelnder Einzelhandlungen, deren dramaturgische Wichtung der Kunst des Regisseurs überlassen bleibt. Warwara Michajlowna befreit sich allmählich aus einer erdrückenden Ehe mit dem Anwalt Bassow, ihr Bruder Wlas, der den Clown mimt und die Sommerfrischler provoziert wo er kann, verliebt sich in die nicht mehr junge Ärztin Marja Lwowna, die sich zum moralischen Gewissen der ganzen Bande aufschwingt und aus Angst vor späterer Enttäuschung nicht zu lieben wagt. Es gibt den Schriftsteller Schalimow, der einer Rolle als Hoffnungsträger für Warwara Michajlowna nicht gerecht wird, den sich zu seiner Durchschnittlichkeit bekennenden Ingenieur Suslow und seinen schwerreichen Onkel, die hübsche, anderen Männern nicht abgeneigte Frau Suslows Julija Filippowna, die überspannte Schöngeistin und Schwester von Bassow Kalerija usw. usf. In der Inszenierung von Karin Henkel sind die einzelnen Episoden die Facetten einer gesamtgesellschaftlichen Sinnsuche, und die Betonung liegt nicht auf der vor sich gehenden Diskussion, sondern auf deren äußerem Erscheinungsbild. Die am Anfang gezeigten Kinobilder weiter russischer Landschaft werden hinter der Leinwand abgelöst durch ein sauberes Plastikambiente, grüner Kunststoffußboden, grüne Plexiglaswände, eine Umgebung versehen mit den kleinen Notwendigkeiten des Urlaubslebens, alle säuberlich beschriftet: Dart, Tee, Bier, Abfall, CD-Player. An diesem drehen die Schauspieler nach Belieben das Vogelgezwitscher an und aus, die Sterilität wird allmählich aufgelockert durch herbeigeschaffte Heuballen. (Das sehr gelungene Bühnenbild stammt von Henrike Engel.) Warwara Michajlowna, vielleicht die Hauptfigur, wird von Susanne Böwe als kindlich-zurückhaltende, ihren Worten nicht sichere Frau gespielt, deren (in dieser Darstellung nicht recht nachvollziehbare) Entwicklung sie später zu plötzlichen Zornesausbrüchen treibt, gipfelnd im Herunterreißen des Tischtuches einer reich gedeckten Tafel im vierten Akt. Ihr weißes Kleid mit dem Unschuld suggerierenden Blumenmotiv und ihre etwas tantenhafte Freundlichkeit erklären jedoch nicht hinreichend, wieso sich gleich drei Männer für sie interessieren. Wlas (Martin Reik), der Provokateur, wirkt wie ein charmanter Bodybuilder, der auch noch klavierspielen und singen kann. Seine Clownerien sind alles andere als feinsinnig, er überzeugt jedoch durch seine unbändige Energie und Leidenschaftlichkeit. Gerade die Ausführung dieser Rolle zeigt die Tendenz der Inszenierung zum Vergröbernden, Effektvollen, was zugegebenermaßen an vielen Stellen sehr mitreißend und unterhaltsam ist. Die Auseinandersetzung der Sommergäste mit dem Lebenssinn wird in einen Zusammenhang mit der Sinnentleerung in der Erlebnisgesellschaft von heute gebracht. Zu diesem Zweck wird einiges an Text dazuerfunden, insbesondere eine nach dem ersten Akt erfolgende Aufforderug ans Publikum, die „Komfort-Nische“ zu verlassen, unalltäglich zu leben (im Stil dieser Leiter von Motivations-Workshops für frustrierte Hausfrauen/Angestellte). Manche Szenen scheinen ins skizzenhafte verkürzt, was der Dynamik des Stückes guttut, aber den Sinn der Dialoge mitunter nur wie durch einen Schleier zu uns dringen läßt. Doch am Ende fühlt sich der erlebnishungrige Zuschauer prächtig unterhalten, was sicher nicht das Schlechteste ist nach einem Theaterbesuch.

(Ian Sober)

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