Johann Sebastian Bach „Johannespassion” (Michael Maul)

12. April 2001 Thomaskirche

Thomanerchor, Gewandhausorchester
Dirigent: Georg Christoph Biller
Johann Sebastian Bach ?Johannespassion?
Solisten:
Barbara Schlick ? Sopran
Andreas Scholl – Altus
Peter Schreier ? Tenor
Jörg Hempel ? Baß
Jochen Kupfer ? Baß

Staudämme des Zerfließens

In der Leipziger musikalischen Kulturszene gibt es drei feststehende Ereignisse im Jahr, die vom Gewandhausorchester bestritten werden: Weihnachten das Weihnachtsoratorium, Silvester die Neunte und Karfreitag eine der beiden Passionen vom alten Bach. Bis auf die Neunte alles aus eigenem Anbau!

In diesem Jahr war die ältere der beiden Bachschen Passionen – die Johannes-Passion – an der Reihe. Jenes Werk also, daß 1724 erstmals in der Nikolaikirche erklang und im Laufe von Bachs Amtszeit mindestens vier Revisionen erlebte. Im Gegensatz zu ihrem Schwesterwerk ist die Johannes-Passion zwar um etwa eine Stunde kürzer, gleichwohl steht sie nicht im Schatten von Bachs Vertonung nach dem Matthäus.

Vergleichen lassen sich beide Werke nicht, schon gar nicht gegeneinander ausspielen, obwohl etwa Robert Schumann der Meinung war, daß die Johannes-Passion „um vieles kühner, gewaltiger, poetischer“ als die Matthäus-Passion ist. „Wie gedrängt, wie durchaus genial, namentlich in den Chören, und von welcher Kunst!“

Beiden Werken liegen verschiedene Konzeptionen zugrunde. So steigt die Johannes-Passion von Anfang an dramatischer ins Geschehen ein, nämlich direkt bei der Gefangennahme Jesu im Garten Getsemani, wohingegen die Matthäus-Passion nach dem gewaltigen Eingangschor zunächst das Abendmahl schildert und die Passionsgeschichte in ausgedehnterer Fassung präsentiert. Die größten Unterschiede finden sich aber in den madrigalischen Bestandteilen der Passionen. War für deren Worte in der Matthäus-Passion der Leipziger C.F. Henrici, alias Picander, zuständig, so ist die Johannes-Passion eine Ansammlung von Dichtungen verschiedener, teilweise unbekannter Verfasser. Sechs Sätzen lag die vielfach vertonte Dichtung des Hamburger Barthold Heinrich Brockes zugrunde, dessen Texte sich durch bildhafte Metaphern, Bodenständigkeit und eine gewisse Brutalität in der Wortwahl auszeichnen. Lange Rede kurzer Sinn – alles in allem ist die Johannes-Passion textlich und auch in der Umsetzung Bachs vergleichsweise dramatischer als ihr vier Jahre jüngeres Schwesterwerk.

Eine dramatische Umsetzung der Passion steht und fällt natürlich mit dem durch die Leidensgeschichte begleitenden Evangelisten. In diesem Jahr konnte dafür Peter Schreier gewonnen werden, der diese Rolle in den letzten beiden Jahrzehnten vielleicht am meisten prägte. Auf jeden Fall gilt er noch immer in jedem ostdeutschen Wohnzimmer mit Plattenspieleranschluß als fleischgewordene Inkarnation eines Bachschen Evangelisten. Vor allem sein dramatischer, mehr sprechender als singender Ansatz dieser Partie, der die Erregung der beobachtenden geistlichen Seele während des Leidensweges Jesu widerspiegelt, war immer eindrucksvoll, weil er nicht affektiert und aufgesetzt sondern mitfühlend, protestantisch und echt wirkte.

Leider wird aber auch Peter Schreier älter. Was er in den letzten Jahren bei seinen Aufführungen als Dirigent und Evangelist mit dramatischen Akzenten noch verbergen konnte wurde am vergangenen Donnerstag deutlich. Die obere Lage strahlt nicht mehr und vieles klingt unsicher und nicht mehr so überzeugend wie ehedem. Sicher war auch Billers Wahl der ersten Fassung von 1724 mit ihren teilweise ungewohnten Varianten des Evangelistentext (vor allem im ersten Teil) mit verantwortlich für diese Unsicherheit. Jedoch sind die Grenzen, die ihm mittlerweile die eigene Stimme setzt, unüberhörbar. Nur in einigen Passagen (z.B. Beginn zweiter Teil), namentlich wenn Schreier die Partitur schloß und mit verkündender Geste seinen Blick nach dem Altarraum richtete, erreichte er seine bekannten, unbestrittenen Qualitäten.

Neben Peter Schreier war mit Babara Schlick eine Altmeisterin aus der Barock-Szene vertreten. Vor allem das wunderbare „Zerfließe mein Herze“ sang sie berührend schön und eindringlich. Daß in dieser Arie aber leider die entscheidende, ruhende und betrachtende, Dimension nicht erreicht wurde, lag an der weniger flexiblen Instrumentalbegleitung. Eine Besonderheit der ersten Fassung ist, daß hier nicht die beiden Traversflöten sondern zwei Viola d’Amore die Begleitung übernehmen, deren herbe Klangfarben ebenfalls den trauernden Facetten dieser Arie Ausdruck verleihen können. Leider störten hier aber besonders Uneinheitlichkeiten in der Artikulation der Beteiligten. Namentlich die instrumentalen Triller trübten den Genuß von Schlicks Gesang erheblich. Nun sollen hier wirklich keine Erbsen gezählt oder geschmackliche Varianten von Verzierungen diskutiert werden. Johann Joachim Quantz brachte es in seiner Flötenschule aber auf den Punkt, als er schrieb:

„Nicht alle Triller dürfen in einerley Geschwindigkeit geschlagen werden: sondern man muß sich hierinne so wohl nach dem Orte wo man spielet, als nach der Sache selbst, die man auszuführen hat, richten. […] Man muß ferner zu unterscheiden wissen, was für Stücke man spielet; damit man nicht, wie viele thun, eine Sache mit der andern vermenge. In traurigen Stücken muß der Triller langsamer; in lustigen aber geschwinder geschlagen werden.“ (IX. Hauptstück 2.§)

Leider wurde die Arie wohl als lustiges Stück betrachtet und starre 32stel verhinderten das „Zerfließen“ des Publikums in diesen Momenten.

Auch in anderen Artikulationsfragen im Orchester fehlten teilweise klare Linien. Eine der heikelsten, wenngleich bei Gelingen eindrucksvollsten Stellen der Passion ist die Arie des Petrus „Ach mein Sinn“. In diesem Monolog, der einen verzweifelten Petrus mit blanken Nerven schildert, bricht Bach mit den barocken Formen von Rhythmus, Melodie und Harmonik. Daher ist die Arie Zerreißprobe im Zusammenspiel zwischen Sänger und Orchester. Billers rustikaler Ansatz französischer Artikulation (Verkürzung der 16tel) mag effektvoll und schlüssig sein, erfordert aber eine einheitliche Umsetzung in allen Streichern und Kooperation mit dem Solisten. Dies gelang leider nur ungenügend.

Star-Altus Andreas Scholl zeigte, daß er zurecht zu den Größten seines Faches zählt. Jörg Hempel war ein junger aber überzeugender Jesus und auch der Bassist Jochen Kupfer gestaltete seine Partie eindringlich. Vor allem die Arie „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ ließ mit dem hervorragenden Zusammenspiel zwischen Kupfer und den glänzend aufgelegten Thomanern keine Wünsche offen.

Überhaupt waren die Thomaner Mittelpunkt dieser Johannes-Passion. Billers durchweg straffe Tempi hatten zwar den Nachteil, daß die meisten Arien zum „Rennen“ neigten und deshalb teilweise ihrer Wirkung beraubt wurden, um so dramatischer gerieten aber die gewaltigen Turbaechöre. Erst beim Schlußakkord ließ Biller eine Fermate zu, die die Passion nach 1h 41min (mit Pausen) in Rekordzeit beendete.

Die größte imitatorische Eigenart der diesjährigen Passionsaufführung brachte Biller im Schlußchor „Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine“, wo er nicht den trauernden, sondern den auffällig optimistischen Blick nach vorn hervorhob, indem er den Nachsatz „die ich nun länger nicht beweine“ zur eigentlichen Aussage machte.

Insgesamt eine doch zwiespältige Aufführung, die vor allem von dem Ende der großartigen Ära Schreier in dieser Partie geprägt war (am Karfreitag wurde er bereits vertreten), zum anderen aber auch noch keine klaren Antworten in der zukünftigen Ausrichtung der Leipziger Bachinterpretation gab. Schmerzlich vermißt man leider immer noch neben den schon seit Jahren benutzten Viola da Gamba, Viola d’Amore und Cembalo die anderen nötigen zeitgenössischen Streich- und Blasinstrumente und Spieler, die sich mit diesen auseinandersetzen möchten.

CD-Tipp Johannes-Passion: Invernizzi, Schubert, Mertens, van der Meel, Coro della Radio Svizzera, Ensemble Vanitas, Diego Fasolis (1999 Arts Music)

(Michael Maul)

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