www heimat le – Das Theaterspektakel I (Marcus Erb-Szymanski)

18. – 27. Mai 2001 Schauspiel Leipzig

www heimat le – Das Theaterspektakel I

Dort u.a. im Haus Leipzig:

Einar Schleef ?Die Bande? (Spielfassung Schauspiel Leipzig)
Regie: Armin Petras
Ausstattung/Video: Bernd Schneider
Dramaturgie: Dagmar Borrmann
Darsteller: Gunnar Teuber, Susanne Buchenberger, Walter Jäckel, Martin Sommerfeld, Florian Mack, Jörg Dathe, Lisa Martinek, Andreas Keller, Ellen Hellwig, Martin Reik, Bettina Riebesel, Oliver Kraushaar

Kavaliersdeliktekstase im Kleinbürgermief

Einar Schleef und das Ende der Ostalgie

Das Haus Leipzig ist zur realsozialistischen Aula geworden. Clubatmosphäre mit roten Fahnen und vorn ein Rednerpult. Dort steht der Parteisekretär, aber nicht um eine Rede zu halten, sondern um das Geschehen, dessen Zeugen wir gleich werden, zu kommentieren. Denn er beobachtet alles, sieht alles, hört alles. Er ist die übergeordnete Institution; wir denken an ?Horch und Greif?.

Was sieht er, was sehen wir? Kleinbürgerlichen DDR-Alltag. Vier ostdeutsche Familien mit ihren gleichermaßen überschaubaren wie aus eigener Kraft unlösbaren Problemen. Die einen sind mit einem behinderten Kind überfordert, die anderen krankheitsbedingt sexuell ausgemustert, wieder andere bekommen nicht den gewünschten Job, weil stets die Hauptstädter bevorzugt werden. Noch andere haben fast alles und kriegen nicht mehr. Aber wie das so ist, man arrangiert sich mit dem Schicksal. Und weil man beieinander wohnt, trifft man sich. Und weil man sich trifft, mag man sich. Zumindest unternimmt man gemeinsam etwas, denn: ?Wenn man schon mal beisammen ist, da will man was erleben!?

Ob Durchschnittstrabi oder Privilegmoskwitsch, am Wochenende wird ein Ausflug gemacht. In Anzügen und Kleidern von der Stange schaffen sich die Bürger ihre Höhepunkte bei der Rauchpause im Abgas-Panorama der Böhlener (oder war es Leuna?) Schornsteinskyline, beim trotzigen Trinkgelage nach den Demütigungen des Kellners und beim Badespaß an der Costa-Baggersee. Auch an gutem Ostrock darf es nicht fehlen. Wenn dann schließlich die Hemmungen schwinden, weil die Bedrückungen des Alltags im Alkoholrausch unsichtbar werden, beginnen die Stunden der Kavaliersdeliktekstase: Jeder lässt etwas aus der Gaststätte mitgehen, einen Zahnstocher, eine Tischdecke, gar eine silberne Kanne. Und das wird gefeiert. Doch mit der Zeit werden die Gegenstände größer (Stühle aus der Gaststätte) und die Delikte übermütiger (Eierschlacht und Hühnervölkermord in der LPG).

Ja, und irgendwann sind sie dann nicht mehr zu bremsen. Die Herren steigen in einen Festsaal ein, um dort mehr oder weniger bestimmte Sehnsüchte oder doch besser gleich richtig die Sau rauszulassen. Und offenbar, wenn man dem Lichtflackern und den Luftzuggeräuschen glauben darf, brennt es hinterher. Die Frauen fallen nach einem Kaffeekränzchen unterm Honni-Bild im Burgkeller wie die Bacchantinnen über einen Taxifahrer her, von dem nur ein paar blutige Fetzen übrigbleiben. So haben Volkspolizei und Staatsanwaltschaft schließlich das letzte Wort.

Einar Schleef beschreibt mit seinem Stück eine Form des Revoltierens, die in der DDR heimlich, bei den meisten nur im Herzen, stattgefunden hat. Die Szenen stellen die Leere und Aussichtslosigkeit, die ein totales Regime im Innern der Menschen hinterlässt, dar. Da Moral auf Anerkennung beruht und nicht auf Zwang, ist ein totalitäres Regime in ethischer Hinsicht eine Wüste. Und in dieser Wüste herrscht eine latente Anarchie. Wann immer in dem von Schleef geschilderten Kleinbürgermilieu die äußeren Zwänge ein wenig abgeschüttelt werden, bricht sich Destruktivität in Reinstform die Bahn. Und da solche Kräfte im Osten nicht in die kommerziellen Bahnen der Unterhaltungsindustrie gelenkt werden konnten (wonach der gemeine Ossi lechzte, wie das wundervolle ?Showbusiness?-Solo von Jörg Dathe beweist), wird die anarchistische Revolte zum substantiellen Bestandteil der Diktatur. Dieser Gedanke jedenfalls wurde an diesem Abend durchaus plausibel gemacht.

Die Schauspieler nutzten den Rahmen eines Spektakels, um dem Affen richtig Zucker zu geben. Dies gestand man ihnen gern zu, wenngleich das Groteske und Makabre durch zu viel Übertreibungen an Wirkung verliert. Auch hätte diese ?Leipziger Fassung? noch einige Straffungen gut vertragen. Dennoch übertrug sich die Spielfreude der Darsteller schnell auf die Zuschauer und nicht wenige Regieeinfälle überzeugten im Detail. So z.B. die Videoversion im echt dänischen Dogma-Stil der vorletzten Szene, bei der sich die Schauspieler selber synchronisieren. Und mitunter entstand mit Hilfe der Ausstattung und von szenischen Verfremdungen, wenn auch nur als Hauch einer Ahnung, so etwas wie Fassbinder-Atmosphäre. Vielleicht spekuliert ja auch Schleef auf diesen Effekt, wenn die Paare oft von sich in der dritten Person sprechen, so dass sie wie unbeteiligt durchs Leben gehen.


(Marcus Erb-Szymanski)

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