„Grosses Concert” mit Mahlers Zehnter (Marcus Erb-Szymanski)

Gewandhausorchester
Dirigent: Daniel Harding

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 10 (Konzertfassung des Entwurfs, fertig gestellt von Deryck Cooke)

1. Adagio, 2. Scherzo, 3. Purgatorio: Allegro moderato, 4. (Scherzo), 5. Finale


Die Unvollendetheit des Unendlichen
Ein Versuch über Mahlers Zehnte anläßlich ihrer Aufführung im Leipziger Gewandhaus

Fast röchelnd klingen die langsamen Einleitungsmelodien der Bratschen. Manche Notenwerte sind zum Verklingen lang. Die Streichergesänge schwelgen in der Ewigkeit eines wolkenverhangenen Augenblicks. Wenn sie jedoch aufreißen, die Wolken, wachen wir in der grotesken Bedrohlichkeit des Irdischen auf. So etwa beim dritten Thema, dessen burschikose Pizzicato-Begleitung mehr sarkastisch als lustig klingt.

Es ist bezeichnend für diesen ersten Satz der 10. Sinfonie von Mahler, dass wir nie wissen, was Traum und was Wirklichkeit ist. Ist es nur ein Traum, eine „Idée fixe“, wenn die Streicher wehmütig um das Idealbild (natürlich der Geliebten) ringen, oder ist es eine höhere Wirklichkeit? Die Realität sieht vergleichsweise fratzenhaft aus. Mit den fast exotisch anmutenden, schrillen Einwürfen der Holzbläser erleben wir eine Maskerade, die auch einem Opiumtraum entstammen könnte. Dieser Gegensatz nimmt bedrohliche Formen an, wenn in einem scheinbar läuternden Blechbläserchoral das Gericht über den armen Sünder, den wir im identitätsstiftenden Streicherpart zu erkennen glauben, gesprochen scheint. Denn der Choralklang „löst“ sich in eine schreckenerregende, orgelähnliche Tuttidissonanz „auf“, die wie ein Todesurteil oder zumindest wie pure Todesangst klingt. Wird hier das Tröstliche als Verkleidung des Bösen entlarvt? Verfällt der imaginäre Protagonist des Stücks in einen Fieberwahn oder, was noch schlimmer wäre, wacht er in einer bedrohlichen Realität auf?

Doch am Ende wird die Seele vom Irdischen, Falschen und Maskierten gereinigt. Tröstliche Streicherstimmen klingen nach einem Neubeginn, aber es ist ein Abschied, ein Verlassen. Denn die Melodien verharren im Pianissimo und werden auch nicht mehr ausgeführt, sondern nur noch in Gesten angedeutet. Schließlich wird der Satz mit Oktavschritten der Bläser in die Schlussakkorde hinabgelassen wie ein Sarg in die Erde. Und in Richtung der höchsten Frequenzen entschwindet die Seele mit den Streichern im Jenseits…

Spätestens seit Mozarts Requiem und Schuberts „Unvollendeter“ umgibt die großen Torsi aus dem Nachlass bedeutender Komponisten die Aura des Mystischen. Als hätten die Schöpfer unvollendeter Werke mit einem Bein schon im Jenseits gestanden und mit ihrem letzten Versuch noch einmal zu uns herüber gewinkt. Und wie schnell sind wir dabei, uns von der Dechiffrierung solcher letzten Lebenszeichen die Lüftung der tiefsten Geheimnisse um Leben und Tod zu versprechen.

Das trifft natürlich in noch größerem Maße zu, wenn ein Komponist wie Mahler, der zeitlebens philosophische Probleme gewälzt hat, eine unvollendete 10. Sinfonie hinterlässt. Das interessante Programmheft dieses Konzerts zitiert aus Schönbergs „Prager Rede“ über Mahler: „Was seine Zehnte, zu der wie auch bei Beethoven Skizzen vorliegen, sagen sollte, das werden wir so wenig erfahren wie bei Beethoven und Bruckner. Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muß fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe. Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schriebe. Und das soll wohl nicht so sein.“

Der englische Musikwissenschaftler Deryck Cooke hat zwischen 1959 und 1966 die von Mahler hinterlassenen Skizzen auf eine Weise bearbeitet, die zu einer, wie er es selbst nennt, ?Konzertfassung? führten. Keine Rekonstruktion oder gar Vollendung habe er, Cooke, im Sinn gehabt, sondern nur eine Art Übertragung der immerhin ?72 Seiten eines voll ausgeschriebenen Partiturentwurfs, sowie 93 Seiten Particell für ein 5-sätziges Werk von etwa 1945 Takten? in eine praktisch aufführbare Form. Dies hat es ermöglicht, dass wir sie nun hören konnten, die Zehnte von Mahler. Der oben beschriebene erste Satz ist noch am wenigsten Fragment. Er wurde von Mahler fast fertiggestellt und wird mitunter auch als eigenständiges Werk aufgeführt.

Lärmende und eilende Geschäftigkeit beherrscht den zweiten Satz. Der Dirigent hat alle Hände voll zu tun, die auseinander driftenden Rhythmen und Metren zusammenzuhalten. Mit ?Scherzo? hat Mahler diesen Satz bezeichnet und ihn offensichtlich anfangs gar als Finale vorgesehen. Doch später änderte er seine Absichten und machte ihn zum Zwischensatz. Ihm folgt ein ?Purgatorio? überschriebener Teil. ?Purgatorio? ist der ?Läuterungsberg? in Dantes ?Göttlicher Komödie?, also das ?Fegefeuer?. Wenn hier logische Kombinationen erlaubt sind, dann müßte demnach der vorhergehende zweite Satz die Hölle, das ?Inferno? sein. Andererseits hatte Mahler ursprünglich in seinen Skizzen notiert: ?Nro. 3./Purgatorio oder Inferno?. Später strich er das ?Inferno?. Doch unabhängig davon, ob nun der zweite oder dritte Satz eine Darstellung der Höllenqualen ist, auf jeden Fall folgt ihm mit literarischer Notwendigkeit – das Paradies. Und da ist der Übergang vom dritten zum vierten, von Cooke diesmal als ?Scherzo? betitelten Satz erstaunlich.

Doch kehren wir zuvor noch einmal zurück zum ?Fegefeuer?. Denn ausgerechnet das ?Purgatorio? überrascht mit fast lieblichen Melodien, deren die kleine Terz umspielende Trillermotive wieder leicht exotisch anmuten. Das nur wenig beschwerte, sehr homogene Dahinfließen dieses Satzes, der eher einer Episode gleicht, wird abrupt durch dissonante Arpeggien der Harfe beendet, die wie ein Schleier oder wie ein Vorhang vor das Stück fallen. Oder sollte man besser sagen, der Vorhang wird aufgezogen? Ein Gong (Tamtam) scheint eine eigene Vorstellung anzukündigen, die das bisherige Geschehen unterbricht. Doch das, was jetzt passiert, ist ein wahrer Hexensabbat, ein beklemmend absurdes Schauspiel in Form eines wollüstigen Walzers. Verführerische Bläsermelodien schmeicheln dem Ohr, aber die schattenhaften Tremoli der Streicher lassen die Szene immer wieder unwirklich erscheinen. Mitunter entsteht der Eindruck, als würde sich das ganze Orchester gegen diese Vision aufbäumen und tatsächlich verschwindet sie nach und nach im Pianissimo der sich entfernenden Gesichte. Ja, was für ein Paradies war das? Hätte Mahler mit solch einem Satz die Sinfonie beschließen sollen?

Es gibt in den Skizzen zu diesem vierten Satz wieder Hinweise darauf, dass ihn Mahler als Finale geplant hatte. Doch nun, nach den ?Läuterungen? im Fegefeuer, wandelt sich der geplante Schluss in eine sarkastische, fast schon zynische Parodie des Paradieses. Nie und nimmer könnte ein Werk in einer derartigen ?Lasterhöhle? enden. Es muß folglich ein Traum gewesen sein, ein Fiebertraum, eine Wahnvorstellung, wie sie der Held dieser sinfonischen Geschichte schon im ersten Satz überwunden geglaubt hatte. Es gilt also, noch einmal zu erwachen, und das Erwachen erfolgt auch in dem Attacca-Übergang zum fünften Satz.

Der trockene Schlag einer großen Militärtrommel unterbricht gellend die Stille. Wie ein Donner ohne Blitz und Regen wiederholt sich immer wieder der eine unheimliche Schlag. So klopft das Schicksal an die Pforten eines Sterbenden, den die Musik nicht sterben lassen will, nicht sterben lassen kann. Und so sind die Anfangstakte des letzten Satzes ein großes Fragezeichen, gemalt aus dunklen Linien der Bläser. Eine helle und lange Flötenkantilene, begleitet von Bratschen, Celli und Bässen, sorgt für eine seltsam entrückte Atmosphäre. Und dann sind sie wieder da – die Streicher in vollem Klang. Sofort ist der Hörer bereit, sich mit ihrem warmen Klang zu identifizieren und dadurch gelingt es nun auch, den Bogen zum Anfang zurückzuschlagen. Das Finale ist eine Rückkehr aus der Erscheinungswelt mit ihren Trugbildern in die Innerlichkeit, bzw. das Erwachen aus einem Alptraum, in dem die inneren Konflikte ihre Maskeraden feierten. Auch im Finale gibt es wieder ein Aufbäumen, gibt es wieder schrille Dissonanzen, die den inneren Frieden verhindern, gibt es wieder choralähnliche Stellen, in denen über den Helden zu Gericht gesessen wird. Aber diesmal ist das Ende wirklich nah. Das Ende im reellen Leben, denn bekanntlich starb Mahler über den Arbeiten an diesem Werk.

Ästhetisch gesehen möchte man meinen, nach dem fünften Satz müsse es wieder mit dem zweiten weitergehen. Denn die Komposition beschreibt einen Kreislauf, ein Wechselspiel zwischen dem eigentlichen Empfinden des musikalischen Ichs, seinen Sehnsüchten und Ängsten, und seinem uneigentlichen Empfinden, seinen Wahnvorstellungen und Fieberträumen. Denn dass Hölle, Fegefeuer und Paradies letztendlich nichts anderes sind, als Trugbilder, ist einfach nicht zu leugnen. Daher findet diese fliehende Seele keinen Eintritt in die jenseitige Welt und wird am Ende in den sterbenden Körper zurückgeschickt. Dann muss alles von vorn beginnen. In dieser Sinfonie steckt die Tragik eines Geistes, der unendlich zwischen den Welten pendelt und keine Ruhe finden kann. Die Unendlichkeit ist hier eine sehr unvollendete Angelegenheit.

Doch alle poetischen Spekulationen beiseite: Welche Geheimnisse sprechen nun tatsächlich aus einem solchen riesigen Fragment? Einige biographische Momente haben mit in den Schaffensprozess hereingespielt. Alma Mahler wird im Programmheft nach dem Vorwort zur Faksimile-Ausgabe dieser Sinfonie zitiert: ?Das Grundgefühl der zehnten Symphonie ist Todesgewißheit, Todesleid, Todeshohn! Ich selbst war Zeugin eines Erlebnisses, das zum Urkeim eines dieser Sätze geworden ist. An einem Wintertag 1907 standen Gustav Mahler und ich am Fenster unseres Hotels in New York. Tief unten ein Leichenbegängnis! Ein Feuerwehrmann, der während seines Rettungswerks in den Flammen umgekommen ist, wird zu Grabe getragen. Eine große Menschenmenge geleitet den Helden. Flutend fernes Gemurmel, dann Stille! Ein Redner löst sich aus der Masse. Wir hören ihn nicht. Da plötzlich ein kurzer, dumpfer Schlaf auf einer verdeckten Trommel als einzige Musik! Ungeheurer Schauder! Ich blicke Gustav Mahler an. Sein Gesicht ist verzerrt vor Erschütterung, von Tränen überströmt. Dies ist der tragische Trommelschlag, mit dem der IV. Satz beschließt [bzw. der V. beginnt], der nachwirkende Erkenntnisschlag seines eigenen Endes.? An dieser Stelle hat Mahler in die Partitur notiert: ?Du allein weißt, was es bedeutet / Ach! Ach! Ach! / Leb wohl mein Saitenspiel! / Leb wohl ? Leb wohl ? Ach wohl / Leb wohl – / Ach ? Ach? Wenige Takte vor dem Schluss stehen in den Noten die Worte ?für dich leben! für dich sterben? und ganz am Ende des Satzes: ?Almschi!?

In dem Maße, wie das Werk ein Fragment ist, drängt sich der biographische Hintergrund zur Erklärung auf und spielt notwendig in mögliche Deutungsversuche hinein. Und eben das ist auch das Erschütternde an dieser Sinfonie. Im Gegensatz zu allen anderen kommt in ihr ein Stück unbewältigten Lebens zum Vorschein. Denn im Normalfall bezwingt die ästhetische Form die Konflikte, die im realen Leben unter Umständen die Entstehung eines Kunstwerks motivieren. Doch mit dem Gelingen der Form und der Vollendung der Kunst wird der reelle Grund ihres Entstehens marginal. So jedoch, wenn das Leben und der Tod die Formvollendung verhindern, muss die Kunst der Realität weichen und der Tod ist die härteste Form der Realität. Andererseits ist diese Art von Kunst, diese Art des Fragmentarischen im späteren 20. Jahrhundert durchaus üblich und legitim, so dass gerade ein solches Fragment als erschütterndes Kunstwerk und Dokument von ästhetischem Interesse sein kann. Insofern ist die Rekonstruktion und Aufführung dieser Sinfonie zu begrüßen, denn die Begegnung mit ihr bleibt nicht ohne tiefe emotionale Wirkung. Einen Grund zur metaphysischen Mystifikation des Unvollendeten wird man in ihr jedoch vergeblich suchen. Die letzten Geheimnisse dieser Welt werden nicht gelöst, sondern hingenommen, wenn die Realität den Geist bezwingt.

(Marcus Erb-Szymanski)

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