Ein Kommentar zum 11. September 2001
„Es muß ja irgendwie weitergehen…“ Warum läßt mich dieser Satz des Ansagers lächeln, wo doch an diesem Tag nichts lächerlich ist, nichts mehr lächerlich sein kann?
Selbst unserem alten Haudegen im Haus, ein Mann, der jedes Wochenende zu Fußballspielen fährt, um gegnerischen Fans weh zu tun, stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Es war an sich schon beunruhigend, aus dem Munde eines Menschen, der sich – wenn überhaupt – nur für Sportsendungen interessiert, die Aufforderung zu erhalten, doch um Himmelswillen die Nachrichten anzuschalten. Dennoch kam ich an diesem Nachmittag nur noch flüchtig dazu, denn ich war schon halb auf dem Weg zu einer Lesung und Ausstellungseröffnung.
Welch unseliger Termin! Niemand der wenigen Anwesenden hatte das, was geschehen war, schon richtig erfaßt und registriert. Alle hatten irgend etwas munkeln gehört oder vielleicht auch aus den Nachrichten bereits Näheres erfahren. Doch die eigentlichen Ausmaße und die ganze Tragweite jener Attentate auf das World Trade Center war noch niemandem bewußt geworden. Und daher beschloß man, die Veranstaltung trotz allem stattfinden zu lassen. Und eben deshalb war auch der Veranstalter nach vorn gekommen, um uns zu sagen, daß „es doch irgendwie weitergehen muß“.
Sicher, wir wußten, wie dieser Satz gemeint war und der junge Herr gestand sich seine Wortverlegenheit durchaus ein. Und dennoch, warum ließ mich dieser Satz lächeln?
Die Antwort kam mir, als ich daheim die Bilder sah: jene einschlagenden lebenden Bomben, jene einstürzenden Hochhäuser und vor allem jene Menschen, die aus den oberen Stockwerken sprangen, weil sie nur noch zwischen verschiedenen Todesarten zu wählen hatten. Die Antwort kam mir beim Entsetzen über die Kalkuliertheit der Attentate, ihrer logischen Reihenfolge, ihrer präzisen Wirksamkeit, ihrer prächtigen Medienpräsenz. Denn dieses Entsetzen ging einher mit der Verwunderung, daß bei uns – bis auf das Fernsehprogramm – alles beim alten blieb. Trotz aller Schockiertheit war unser Leben rein äußerlich unversehrt geblieben. Bei uns mußte es nicht weitergehen, bei uns ging es weiter, einfach so.
Und genau das war wohl auch das in weltpolitischer Hinsicht Besondere an diesen schrecklichen Ereignissen. Nicht nur, daß dadurch eine neue Dimension des Terrors und des Verbrechens erreicht wurde, plötzlich lag hier auch eine kriegerische Auseinandersetzung vor, die auf amerikanischem Boden stattfand. Amerika hat noch nie sonderlich viel Rücksicht auf die Bevölkerung genommen, wenn es darum ging, mit kriegerischen Mitteln außenpolitische Interessen durchzusetzen. Denn es gehörte zum Privileg dieser Großmacht, daß die Kriege immer in anderen Ländern stattfanden, während die amerikanische Zivilbevölkerung weitgehend unberührt blieb.
Nun schaut die Welt auf Amerika mit seinen schätzungsweise 7000 Toten. In anderen Teilen der Welt sterben täglich nicht weniger Menschen und niemand schaut hin. Doch hier geht es um Amerika, das plötzlich seinen Status als Weltpolizist und Weltmacht zu verlieren droht. Ein Land, das seine eigene Bevölkerung nicht mehr schützen kann, wird auch außenpolitisch instabil.
Doch der Zynismus, mit dem diese Kriegserklärung an Amerika und den durch dieses Land symbolisierten Weg einer „Ersten Welt“ inszeniert wurde, hat Amerika nun derartig in Zugzwang gebracht, daß eine Situation entstanden ist, aus der im Grunde genommen niemand mehr glimpflich davonkommen kann. Daher wird es in der Tat auch für uns auf Dauer nicht so weitergehen. Und eben deshalb halten wir jetzt mit unseren üblichen Beschäftigungen inne, um das Trügerische unseres normalen Alltags nicht zu übersehen.
Insofern werden mir auch die zwei Künstlerinnen verzeihen, daß ich ihnen eine Rezension vorenthalte, die ich ihrer auf ganz unterschiedliche Weise ambitionierten Kunst an jedem anderen Tag schuldig gewesen wäre. Nur im Augenblick soll es eben nicht einfach so weitergehen!
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