Herbert Blomstedt dirigiert Schubert und Bruckner (Marcus Erb-Szymanski)

20. September 2001 Gewandhaus Großer Saal

Gewandhausorchester, Dirigent: Herbert Blomstedt
Franz Schubert: Sinfonie h-Moll D 759 (?Unvollendete?)
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 9 d-Moll


Die Unbeweglichkeit des Dramatischen

Auffallend ist das fast schon statische Tempo, das Blomstedt in den langsamen Sätzen wählt. Als wolle er die Zeit anhalten. Umso effektvoller ist es, wenn sich – und damit ist nun Bruckners Neunte gemeint – trotz der Langsamkeit ungeheure thematische und dynamische Kontraste zusammenbrauen, die Blomstedt dann auch, ohne das Tempo deshalb zu beschleunigen, erbarmungslos aufeinander prallen lässt. Immer wieder erheben sich die Streicher aus dem Staub, in den sie von den Blechbläsern geschmettert wurden, doch niemals gelingt es ihnen, wirklich zu schwelgen. Und selbst die Schluss-Synthese des ersten Satzes, in der sich die förmlich-überirdischen Blechbläserformeln mit den menschlichen Gesängen der Streicher verbinden, gerät fast schon tumultuarisch.

Dennoch behält Blomstedt die Fäden immer in der Hand, lässt sich niemals mit fortreißen. Das ist der Trumpf seines Tempos. Die Langsamkeit macht den Dirigenten zum Hüter der Zeit und damit auch zum Hüter des Schicksals im Reich der Musik. Die Gemessenheit und Unverrückbarkeit des langsamen Tempos überbrückt die Leerstellen im ersten Satz und seine gewaltigen Konflikte. Und im dritten Satz steht sie für das Bemühen, einem entrückten Zustand, einer Vision, den Stempel der Unendlichkeit aufzudrücken. Auch hier ist die Stetigkeit des Schreitens gleichbedeutend mit der Unbeirrbarkeit einer geistigen Haltung, die den vielschichtigen Schattierungen der Musik eine ästhetische Einheit gibt.

Ganz anders dagegen gerät der zweite Satz: kompromisslos schnell, beängstigend gespenstisch und in seinem Grauen so lebendig, dass es dem Hörer vor Freude die Tränen in die Augen treibt. Genau so ist Bruckner in seinen Scherzi, deren Superlativ im zweiten Satz der Neunten zu finden ist.

Doch warum um alles in der Welt überträgt Blomstedt diese starken Merkmale seiner Bruckner-Interpretation nicht auch auf Schubert? Das einzige, was er auch hier zur Geltung bringt, ist die Kontinuität des Tempos. Doch sie verbindet sich bei ihm nicht mit den dynamischen Kontrasten eines Bruckners. Dabei zeigt gerade der verheißungsvolle Beginn dieser Sinfonie mit dem Gewandhausorchester – das verhaltene Flüstern mit den erbarmungslosen Akkordschlägen als Antwort -, dass auch hier die Konflikte unversöhnlich dargestellt werden können. Doch in der Folge verzichtet Blomstedt auf das Ausreizen der dynamischen Extreme. Sein Schubert bewegt sich über weite Strecken im Lautstärkemaß einer Kammersinfonie. Dem heiter-verhaltenen und in sich bewegten Schwingen im ersten Satz bekommt das noch gut, doch die Stetigkeit des Tempos zeitigt ihre eigentlichen Effekte erst bei den großen Steigerungen im Orchestertutti. Ansonsten wirkt sie zu statisch, um nicht zu sagen: zu langatmig.

Insofern hat es das Gewandhausorchester unter Herbert Blomstedt verpasst, den inneren Zusammenhang zwischen der Brucknerschen und der Schubertschen Sinfonik zu demonstrieren. Nach der eindrucksvollen Darbietung der Neunten von Bruckner dachte man daher nicht an den ersten Programmteil zurück, sondern vielmehr an die komplementäre Darbietung der Neunten jenes anderen großen Sinfonikers – Mahler – unter dem jungen und agilen Fabio Luisi an gleicher Stelle vor anderthalb Wochen.

(Marcus Erb-Szymanski)

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