Fryderyk Chopin, Sämtliche Nocturnes (Marie Babette Spranger)

23. September 2001
Gewandhaus, Mendelssohn-Saal

Fryderyk Chopin, Sämtliche Nocturnes

Ewa Kupiec, Klavier

Ewa Kupiec: Eine eigenwillige Poetin

Den Leipzigern ist sie bereits ein Begriff, die junge, aus Duszniki in Polen stammende Pianistin. War sie bereits mit einem Klavierabend innerhalb der Konzertreihe der Hypo-Kulturstiftung sowie im letzten Jahr mit Chopins f-moll-Konzert und dem Gewandhausorchester zu erleben, so verwunderte es nicht, dass Sie mit Ihrem Vorhaben, die gesamten Nocturnes von Frédéric Chopin an einem Abend zu präsentieren, den Mendelssohn-Saal des Gewandhauses am vergangenen Sonntag fast bis auf den letzten Platz füllte. Die Verspätung des Konzertbeginns aufgrund der großen Kartennachfrage nahm man gelassen hin, überwog doch die Neugier auf das durchaus unkonventionelle Programm.

Zwar ist die vollständige Präsentation einer bestimmten Werkgattung aus dem Oeuvre des polnischen Romantikers heute keine Seltenheit mehr – gerne werden an einem Abend alle Préludes, eine Gruppe der Etüden oder die 4 Scherzi in chronologischer Reihenfolge gespielt. Die Nocturnes bilden diesbezüglich jedoch eine Ausnahme – sowohl hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichte, als auch im Hinblick auf die aufführungspraktischen Usancen von Klavier-Recitals. Die Préludes op. 28 bilden einen geschlossenen Zyklus, die Etüden op.10 und op.25 stehen in 2 Gruppen ? 12 zuzüglich drei posthum veröffentlichten Kleinodien nebeneinander, und die 4 Scherzi liegen bezüglich des Kompositionszeitraums ebenfalls nicht allzu weit auseinander. Des weiteren sind alle drei Werkgruppen hinsichtlich ihres Umfangs problemlos in den zeitlichen Rahmen eines Klavierabends zu integrieren, wobei meist noch Zeit für die Gegenüberstellung mit anderen Werken bleibt. Nicht so die Nocturnes, die – selbst als einziger abendlicher Programmpunkt – drohen, die übliche Dauer eines Recitals zu überschreiten.

Als Sammlung von 19 zu Lebzeiten Chopins veröffentlichten und drei posthum erschienenen ?Nachtstücken? entstanden sie in einem Zeitraum von 20 Jahren in Gruppierungen von zwei oder drei zusammengehörigen Opusnummern und spiegeln einen kompositorischen Reifeprozess wieder, der sich in der strukturellen Anlage und musikalischen Dramatik der Einzelstücke manifestiert. Schmeicheln die drei Nocturnes op. 9 noch mit schlichter Kantabilität und jugendlicher Naivität, so blicken Spätwerke wie das c-moll-Nocturne op. 48,1 in seelische Abgründe, die durch eine sehr viel komplexere, dichtere Harmonik und extremere agogische Gestaltungsmittel – man denke an das Presto-Finale, die ?Reprise? – dramatisch ausgelotet werden. Die inhaltliche Vielfalt dieser Werkgruppe ist enorm.

Die Interpretin entwickelt auf Basis dieser Vielfalt und ihrer eigenen Gestaltungsfähigkeit eine individuelle Dramaturgie für die Wiedergabe des Gesamtwerkes. Sie reiht nicht, wie normalerweise üblich, die Werke nach Opuszahlen chronologisch aneinander, sondern gestaltet die Reihenfolge nach eigenen dramaturgischen Maßstäben, indem sie bestimmte Stücke exponiert, die Werkfolge einrahmen läßt, während andere Nocturnes quasi als Interludien eingliedert werden. Dabei berücksichtigt sie tonartliche Verwandtschaften und fügt bisweilen die Nummern eines bestimmten Opus? neu zusammen. So kann die Reihenfolge der bereits 1997 veröffentlichten Gesamteinspielung der Nocturnes auch bei dieser ersten öffentlichen Aufführung (!) überzeugen.

Sie eröffnet mit dem Nocturne op. 27,1 in cis-moll, ein reiferes Werk, welches bereits die ganze Ausdrucksvielfalt des Komponisten in sich vereint. Ewa Kupiec entwickelt zu Beginn des Abends eine wahrhaft geheimnisvolle, nächtliche Atmosphäre, die quasi als Titel dem weiteren Vortrag voransteht. Wie von Ferne nähern sich die ersten Sechstolen der Begleitfigur, die allmählich bis zum heroischen ff-Ausbruch gesteigert werden, ergänzt durch die Oktavrepetitionen der rechten Hand. Weitergeführt in die Modulation nach As-Dur, das kurze mazurkenhafte Aufhellen in der Paralleltonart und die schließliche Resignation in der Tonika scheint das Stück eine eigene Geschichte zu erzählen. Schon Robert Schumann, der Chopins Schaffen aufmerksam verfolgte, berichtete in der ?Neuen Zeitschrift für Musik? über die Nocturnes op. 27, dass er diese für das ?Herzinnigste und Verklärteste halte, was nur in der Musik erdacht werden könne.?

Ewa Kupiec gestaltet diese Verklärung geradezu plastisch, zeichnet Haupt- und Nebengedanken nach, macht ungeahnte Nebenstimmen hörbar und führt den Hörer im Laufe des Programms durch die ganze emotionale Vielfalt dieser Stücke. Sie läßt die Pianissimi bis ins Unhörbare verklingen, gestaltet die schroffen Gegensätze des F-Dur-Nocturnes op.15,1 wahrhaftig und legt stets großen Wert auf Transparenz des Klangs und Wahrhaftigkeit des Ausdrucks. Kennt man von Interpreten der Vergangenheit, wie einem Rubinstein, den eher vereinheitlichenden, ?schönen? Chopin-Klang, so präsentiert Ewa Kupiec einen Komponisten voller Gegensätze, von innerer Zerrissenheit, dessen dämonische Ausbrüche von ihr in größtmöglichen dynamischen Extremen nachvollzogen werden. Dabei geraten die Fortissimi bisweilen etwas hart und knallend, was aber auch der hellen Intonation des Flügels geschuldet sein kann.

Ihren Eigen-Sinn demonstriert die Pianistin auch hinsichtlich der gewählten Tempi, die sie meist rascher wählt als vorgegeben. Diese ?modernere? Herangehensweise ist jedoch textlich wie interpretatorisch stets nachzuvollziehen. So scheint ein zügiges Vorangehen in op.9,1 auf Basis der begleitenden Sechstolen in der linken Hand trotz der Betitelung ?Larghetto? durchaus kompositorisch motiviert, ebenso wie dem zwar ?Andante? überschriebenen, aber durch die begleitenden Triolen von Unruhe getriebenen e-moll-Nocturne op. 72,1, dessen Nervosität Ewa Kupiec ebenso in der melodischen Linienführung gestaltet. Auch dynamisch lässt sich die Interpretin nicht von Althergebrachtem bevormunden, sondern überzeugt durch eine eigene Auslegung des Notentextes, wenn sie im c-moll-Nocturne op. 48,1, vielleicht dem heroischsten und massivsten aller, den Schlussteil nicht im pp – wie vorgegeben – neu entwickelt, sondern ihn als Folge des vorangegangenen Oktavencrescendos im ff anschließt und somit größtmögliche Dramatik dem stillen Wehklagen vorzieht.

Wie man diesen interpretatorischen Eigenwillen auch bewerten mag, so läßt Ewa Kupiecs? Spiel eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Werk Chopins erkennen. Nichts geschieht zufällig oder willkürlich, jede Wendung, so überraschend sie manchmal scheint, ist wohlüberlegt und von interpretatorischem Gehalt. Sie ?entschlackt? gewissermaßen das althergebrachte Bild des nur zartfühlenden, schwärmerischen polnischen ?Franzosen?, indem sie die werkimmanenten Gegensätze kontrastreich gegenüberstellt, sowohl die Lyrik als auch Dramatik Chopinscher Musik bis in ihre Extreme auslotet und dennoch klanglich transparent bleibt. Sie zeichnet ein neues Chopin-Bild, eines unserer Zeit angemessenes, welches nicht mit einem Wahrheits-Anspruch belegt wird, sondern aus der Pflicht der künstlerischen Neuerschaffung entstanden ist.

(Marie Babette Spranger)

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