Shakespeares „Hamlet” (Grit Kalies)

23. September 2001

Shakespeares ?Hamlet? im Schauspiel Leipzig

mit:
Liv-Juliane Barine, Anja Schneider, Thomas Dehler, Sylvester Groth, Mathias Hummitzsch, Martin Reik, Dieter Jaßlauk, Torben Kessler, Michael Schrodt

Regie: Wolfgang Engel
Bühne: Horst Vogelgesang
Kostüme: Katja Schröder

Alles oder nichts

?Verehrte Besucher, wir bitten Sie freundlichst, Ihre Handys vor der Vorstellung auszuschalten.? So die Lautsprecherworte vor dem Beginn des Stückes ?Die tragische Geschichte von Hamlet, Prinz von Dänemark? im gut besuchten, doch nicht ausverkauften Schauspielhaus zwei Tage nach der Premiere.

Ophelia (Anja Schneider) tritt auf, die Tochter des Staatsrats Polonius, blond, langhaarig, in weinrotem Satinkleid. Sie ist verliebt. In wen? In Lord Hamlet natürlich, den Sohn der Königin, der ihr Liebesbriefe schreibt. Ihr Bruder Laertes bittet sie, den Schwüren Hamlets nicht zu glauben und ihren ?Schatz vor seinem Andrang? nicht zu öffnen: ?Tragt Ihr doch eines Tages einen Balg.? Polonius, beider Vater, tritt auf, der Konflikt wird als ein gesellschaftlicher erkennbar.

Dann die zweite Szene, eine Überraschung: Zwei Hände kommen aus dem kleinen Souffleusenverschlag im Vordergrund der Bühne hervor, ein ganzer Körper folgt: ?Ich bin deines Vaters Geist.? Die Bühne wird durch ein eisernes Tor versperrt, der Geist davor setzt sich eine Pappkrone auf und berichtet mit Worten und Schattenspielen an dem Tor von Claudius, dem Bruder des Königs, der ihn, den König, ermordete und so an die Krone und die Königin kam. Von seinem Sohn Hamlet fordert er, Rache zu üben. Ein schöner Kunstgriff dabei ist, daß Hamlet und der Geist seines Vaters durch denselben Schauspieler (Sylvester Groth) in derselben Kleidung dargestellt werden, wodurch die Szene ?Hamlet erscheint der Geist seines Vaters? verstärkt als innerliches Geschehen gezeichnet wird.

Schon nach wenigen Minuten ist die Konfliktlage umrissen. Es geht mindestens um Liebe und Tod, die beiden größten Themen überhaupt. Und es geht um mehr. Es geht nämlich um alles in diesem Shakespearestück, das 1602 in London uraufgeführt wurde und ein Geniestreich ist. Um Macht und Intrige geht es, um Leidenschaft, Rache, um ethische Probleme, um die Lähmung des Menschen durch sich widersprechende zerrüttende Gedanken (Hamlet: ?So macht das Denken alle uns zum Feigling.?, Goethe: ?Von des Gedankens Blässe angekränkelt?), um Motivsuche, Zeitgeschichte, Träume, Wahnsinn und so weiter. Wie ist das in drei Stunden und nicht antiquiert auf der Bühne darzustellen?

Nehmen wir einen großen hellen Raum mit gemustertem Holzparkett, weißgestrichenen Backsteinwänden, ein paar unauffälligen Möbeln aus verschiedenen Epochen und einer metallischen Empore. Werden wir der Zeit gerecht, indem wir zeitlos sind, und wählen wir für den modernen Hamlet etwa eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, für den König Claudius ein rotes Jackett, schwarzes Hemd, schwarze Hose, für Horatio, den Freund Hamlets, Kleider aus den zwanziger Jahren und eine Brille, und lassen wir Ophelia neben den klassischen Kleidern auch mal eine schwarze Hose tragen, Hauptsache, die Gewänder wirken nicht über- oder untertrieben (Hamlet: ?Laßt euer eigenes Empfinden euer Lehrer sein. Übertreibungen schaden dem Spiel.?). Lassen wir eine Diskrepanz zwischen Ambiente und Wort nicht zu, ermöglichen wir also in moderater Weise sowohl mäßig rhythmisierte als auch heutige Sprache, verwenden wir Photographien, bauen wir zum Ende hin eine Szene mit schwarzem Humor ein, lassen wir die Totengräber aus einer Zeitung Neuigkeiten vom Leipziger Land vorlesen. – Und schon sind wir in der Hamletinszenierung des Leipziger Schauspielhauses.

Gemäß der Shakespearevorlage bleibt der Charakter des zaudernden Helden unklar, die Motive und die Seelenlage der Königin Mutter werden nicht erhellt, Unsicherheiten, die die Tragödie interessant und spannend machen. Gleichwohl bleibt die ideenreiche und ehrgeizige Aufführung mit dem Anspruch, einen Hamlet zu zeigen, der um unsere Zeit reicher ist, merkwürdig flach. Nur wenige Szenen berühren wirklich, das gesamte Stück hinterläßt trotz des Todes sämtlicher Protagonisten keinen tiefen tragischen Eindruck. Ursachen dafür mögen in einer nicht vollständigen Glaubwürdigkeit des Hamlet liegen, der insbesondere (und im Gegensatz zu Ophelia) in den Monologen etwas schwach ist. Teilweise passieren Längen im Schauspiel, an pathetischen Stellen gibt es mitunter Lacher im Publikum, und die Totengräber-Szene wirkt trotz des Zynismus wie Kabarett. Es wurde viel begehrt und wenig erreicht. Wollte man in bezug auf die emotionale Wirkung der Aufführung analog zu Hamlets ?Sein oder Nichtsein?? die Frage: ?Alles oder nichts?? stellen und kein Dazwischen zulassen, müßte mit ?Nichts.? geantwortet werden. Nach dem letzten Satz des Stückes: ?Der Rest ist Schweigen.? hören wir aus der Reihe hinter uns: ?Jetzt können wir das Handy endlich wieder anschalten.?

(Grit Kalies)

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