Festkonzert „20 Jahre Neues Gewandhaus” (Frank Sindermann)

08. Oktober 2001

Festkonzert „20 Jahre Neues Gewandhaus“

Brahms zum Geburtstag

Das Gewandhaus ist zweifellos ein Markenzeichen Leipzigs, auf das die Stadt mit Recht stolz sein kann. Das gilt nicht nur für seinen Klangkörper, das Gewandhausorchester, das nun schon seit über 250 Jahren das Musikleben Leipzigs bereichert, unter dessen Orchestermitgliedern und Dirigenten sich bereits so viele berühmte Musiker befunden haben, und das heute noch den Menschen in aller Welt ein Begriff ist, sondern ebenso für das Gewandhaus als Gebäude. Dies trifft auch auf das 1981 eröffnete Neue Gewandhaus zu, dessen Bedeutung sich nicht im Musikalischen erschöpft: Neben der hervorragenden Akustik, die zum Vorbild vieler Nachahmer wurde, und den weiteren musikalischen Vorzügen ist an die wichtige Rolle des Gewandhauses während der friedlichen Demonstrationen im Jahr 1989 zu erinnern, als das Konzerthaus zum Ort der politischen Vernunft und zum Symbol der Verständigung wurde. Angesichts dieser großen Bedeutung des Neuen Gewandhauses ist es selbstverständliche Pflicht (und Freude), sein 20jähriges Bestehen mit Festkonzerten, Veröffentlichungen und Ausstellungen zu feiern.

Höhepunkt der Festivitäten war das große Festkonzert am 8. Oktober, das, wie sollte es auch anders sein, vom Gewandhausorchester unter seinem Chefdirigenten Herbert Blomstedt bestritten wurde. Auf dem Programm standen zwei Kompositionen von Johannes Brahms, einem Komponisten also, dessen Werke schon seit langem zu den meistgespielten des Gewandhausorchesters gehören und damit (neben Beethoven) den festen Kern des Repertoires bilden. Den Anfang machte das Violinkonzert op. 77, ein ebenso beliebtes wie schwieriges Werk, das vom Solisten, in diesem Fall dem jungen Geiger Nikolaj Znaider, viel verlangt, ihm aber wenig Raum zur Selbstdarstellung läßt. Dieses Werk eignete sich für das Jubiläumskonzert besonders gut, war es doch 1879 in Leipzig mit großem Erfolg uraufgeführt worden, noch dazu unter der Leitung des Komponisten selbst. Den Solopart spielte damals der berühmte Geiger Joseph Joachim, der an der Ausarbeitung des Soloparts mit beteiligt gewesen war und dem das Konzert auch gewidmet ist.

Der feierliche Anlaß der Aufführung und die geschichtlichen Verbindungen des Werks zur Stadt Leipzig und dem Gewandhausorchester erlegten dem Solisten an diesem Abend eine große Bürde auf, der Nikolaj Znaider leider nicht immer gewachsen war. Von einigen Stellen abgesehen, geriet Znaider der Solopart insgesamt zu undifferenziert und farblos. Um tiefere musikalische Durchdringung und ein höheres Maß an tonlicher Nuancierung zu erreichen, ist allerdings eine Voraussetzung unabdingbar: die souveräne Beherrschung der Technik. Denn Musik fängt erst dort an, wo die Technik kein Problem mehr darstellt. Nun soll damit nicht gesagt werden, Znaider sei dem Werk geigerisch nicht gewachsen gewesen. Wenn man einige Intonationsprobleme und Ungenauigkeiten in besonders virtuosen Passagen der Ecksätze einmal ausnimmt, hatte Znaider das Konzert technisch sehr wohl im Griff. Aber das allein, wie schon gesagt, reicht nicht aus. Es fehlte jener Grad technischer Überlegenheit, der eine individuelle Darstellung erst ermöglicht hätte. So blieben große Momente, wie teilweise im zweiten Satz, eher die Ausnahme. Geistesgegenwart bewies der Solist immerhin, als er sich im Finalsatz nach Problemen mit seinem Instrument in Sekundenschnelle die Violine des Konzertmeisters „auslieh“. Daß das Mißgeschick den Gesamteindruck der Darbietung nicht gerade verbesserte, dürfte auf der Hand liegen. Auch das Gewandhausorchester konnte am recht enttäuschenden Eindruck der Aufführung wenig ändern. Die Leistungen an den einzelnen Pulten wußten zwar durchaus zu überzeugen, das Zusammenspiel mit dem Solisten hätte aber noch weitaus homogener geraten können. So wurde hier wieder einmal recht unbekümmert nebeneinander her musiziert. Was blieb, war die Hoffnung auf den zweiten Teil des Konzerts.

Zum Glück stand ja noch ein weiteres Werk auf dem Programm, nämlich Brahms‘ vierte Symphonie op. 98. Und diese Darbietung ließ schlagartig alle Enttäuschung vergessen. Die Vierte von Brahms ist ein vielschichtiges Werk, das ein Höchstmaß an formaler Konstruiertheit mit emotionaler Ausdrucksgewalt verbindet. Entsprechend breit ist die Palette der verschiedenen Interpretationsansätze. Während manche Dirigenten eher die komplexen Strukturen der Musik analytisch freilegen, belassen andere diese eher im Hintergrund und konzentrieren sich auf die äußere Dramaturgie des Werks. So auch Blomstedt. Wenn man den hier gewählten Ansatz auf den Punkt bringen wollte, so könnte man sagen, die Musik wurde hier vor allem unter dem Gesichtspunkt der Energie aufgefaßt. Schon im ersten Satz betonte Blomstedt eher den Aspekt des Vorantreibenden als den des Elegischen und Verinnerlichten. Nach einem zweiten Satz, der eher den Charakter eines ruhigen Intermezzos trägt, und der in dieser Aufführung die Funktion eines retardierenden Moments innerhalb angespannter Dramatik einnahm, folgte das beliebte Scherzo, dargeboten als ein Beispiel perfekter Orchesterkultur. Der homogene Streicherklang, die perfekt gesetzten Triangelschläge, das perfekte Zusammenspiel aller Gruppen: Eine bessere Realisierung läßt sich kaum denken. Überzeugend war auch die Verwendung harter Paukenschlegel, deren markiger Klang gut zu Blomstedts schroffem Grundkonzept paßte.

Für den Finalsatz gilt Ähnliches: Auch hier ließen die Leistungen der einzelnen Musiker sowie das Ensemblespiel kaum Wünsche (auch keine Blech-Wünsche!) offen. Hinzu kam noch ein Dirigat, das den Satz als einen einzigen Sog zum Schluß hin anlegte. Ein kaum je nachlassender Spannungsbogen schlug das Publikum geradezu in den Bann und ließ die letzten Takte als unausweichliches Ende erleben, nach dem nichts Weiteres denkbar schien. Eine Symphonie wie aus einem Guß, ein gut aufgelegtes Orchester: Was will man mehr? Diese hervorragende Aufführung ist um so erfreulicher angesichts der Tatsache, daß das Konzert damit doch noch einen (mehr als) würdigen Abschluß gefunden hat.

Aber die Musik war an diesem Abend nicht der einzige Programmpunkt. So hielt Leipzigs Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee eine kurze Rede, in der er auf die Bedeutung des Gewandhauses hinwies und darauf, daß der Erfolg letztlich den Menschen zu verdanken sei, die im und für das Gewandhaus arbeiteten. Besonderen Dank zollte Tiefensee dem ehemaligen Gewandhauskapellmeister und Ehrenbürger Leipzigs, Kurt Masur, ohne dessen beharrliches Engagement das Neue Gewandhaus nicht gebaut worden wäre. Masur, der als Ehrengast anwesend war, wurde vom Publikum mit herzlichem Applaus geehrt. Zur Stärkung der zahlreichen Besucher (der Saal war ausverkauft) reichte man nach dem Konzert in den Foyers noch Speisen und Getränke. So wurde dem feierlichen Anlaß auch kulinarisch Rechnung getragen. Alles in allem war es ein Abend, der sich des Jubiläums durchaus als würdig erwies, und der den Besuchern wohl lange in guter Erinnerung bleiben wird.

(Frank Sindermann)

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