MDR Sinfonieorchester „Komponisten als Dirigenten” (Steffen Lehmann)

9. Oktober 2001, Gewandhaus, Großer Saal

MDR Sinfonieorchester ?Komponisten als Dirigenten?

Dirigent: HK Gruber
Solist: Colin Currie, Percussion
Hanns Eisler: Kleine Sinfonie op. 29
HK Gruber: „Rough Music“ for percussion and orchestra
Boris Blacher: Orchester-Ornament op. 44
Igor Markevitch: „Le Nouvel Age“ Symphonie concertante pour orchestre

„Das Ohr als Instanz für gute Musik“

In einem Interview äußerte sich Gewandhauskapellmeister Herbert Blomstedt kürzlich darüber, wie schwer es ist, dem Leipziger Publikum Neues und Unbekanntes nahe zu bringen. Als Erklärung bemühte er dabei die besondere Situation des Publikums in der ehemaligen DDR, wo die Musik Beethovens, Brahms und Bruckners ein imaginäres Band gewesen sei, dass in die „alte Welt, eine Welt, die noch frei war“ reichte.

Es sei dahingestellt, inwieweit es sich bei solchen Sätzen um eine Entschuldigung vor dem und für das Publikum handelt. Jetzt leben wir im Jahr 11 nach dem Untergang der DDR. Aber wie schwer es Neue Musik in Leipzig tatsächlich weiterhin hat, zeigte sich beim zweiten Konzert im Rahmen der Gewandhaus-Festtage: Ein spärlich gefüllter Großer Saal, in dem man das Publikum per Handschlag begrüßen konnte. Bei der Podiumsdiskussion im Foyer, wo zum wiederholten Male über den 9. Oktober 1989 räsoniert wurde, drängelten sich geschätzte 1500 Besucher! Am Ende ahnte Blomstedt wohl schon, was die Musiker erwarten würde. Seine Einladung, das Konzert zu besuchen, es sei kostenlos, war somit symptomatisch.

Dabei war es gar keine Veranstaltung des Gewandhauses, sondern des Rundfunks und die hätte in der Tat mehr Publikum verdient gehabt. Bot sie doch ein stimmgewaltiges Kontrastprogramm zu den Konzerten des Gewandhausorchesters. Maßgeblichen Anteil daran hatte der Dirigent des Abends: HK Gruber. Der Wiener pflegt mit Konsequenz seinen Ruf als sogenanntes Enfant terrible der österreichischen Musikszene. Er hat es mit Monstern (Frankenstein!!) ebenso wie mit Kinderversen, mit Kabarett ebenso wie mit Zwölftontechnik zu tun. Aber: Bei Gruber klingt alles ein wenig anders.

Der Auftakt mit Eislers „Kleiner Sinfonie“ war wohl mit Bedacht gewählt worden. Kein radikales Verstören des Publikums, sondern behutsames Heranführen an das Ungewohnte, das Fremde. Programmatisch kreuzen sich hier die Wege von Gruber und Eisler, die beide auf ganz unterschiedliche Weise Musik vermitteln. Für Eisler, der die Arbeiterschaft an die Musik heranführen wollte, war das Programm mithin schon fertig: Unterhaltung mit „einfachen“ Mitteln. Dazu bedient er sich folkloristischer oder wenigstens folkloristisch anmutender Melodien. Der Marschcharakter erinnert an Eislersche Arbeiterlieder. Die lyrischen Momente des dritten Satzes, die doch gar nicht so in das Schema Neue Musik hineinzupassen scheinen, werden dann auch flugs beerdigt. Am Ende verschwinden die Violinen hinter einem auftrumpfenden Stampfen. Ist es eine Reminiszenz an den zeitgeschichtlichen Kontext der Entstehung des Werkes kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland?

Mit der Behutsamkeit war es spätestens bei Grubers „Rough Music“ vorbei. Das Schlagzeug steht hier im Mittelpunkt des Geschehens. Grubers Anliegen bei dieser Komposition ist es, das Schlagzeug von den untergeordneten Aufgaben im Orchester zu befreien. Und der Befreiungskampf glückt meisterlich. Zum einen, weil Colin Currie, der junge Perkussionist, seine Spielfreude in den Dienst der „Aufständischen“ stellt und leichtfüßig von Instrument zu Instrument balanciert. Andererseits, weil sich Schlagzeug und Tutti in Klangspektren steigern, die an karibische Karnevalsumzüge erinnern. Die Bläser schrauben sich in ungeahnte Höhen, die Streicher versuchen dagegen zu halten. Harmonie war hier nicht das Klassenziel, sondern Rhythmus, der mitzureißen vermag.

Bei alldem ist HK Gruber immer souverän. Ruhig manövriert er das Orchester durch alle musikalische Strudel und Untiefen. So auch in Boris Blachers Orchester-Ornament, wo die Musiker durch die Veränderung der Takteinheiten bei gleichbleibenden Achtelwerten besonders gefordert sind. Diese Technik der „variablen Metren“, die der studierte Mathematiker Blacher virtuos handhabt, löst seltsame Empfindungen aus. Als ob sich der Puls ständig ändern würde.

Eine letzte Steigerung dieser Tour de force ist dann Igor Markevitchs “ Le Nouvel Age“. Der Beginn des Werks ist eine Stille vor dem Sturm. Denn urplötzlich bricht ein kakophonisches Gewitter herein. Ähnlich das furiose Finale: nach einem kurzen Innehalten bäumen sich die Streicher ein letztes Mal auf, die Bläser stellen sich ihnen entgegen. Und in dem Maße, wie sich hier Akkorde ihren Weg in das Gehör bahnen, weicht endgültig jede anfängliche Skepsis einer allgemeinen Faszination.

(Steffen Lehmann)

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