The London Philharmonic Orchestra unter Kurt Masur (Steffen Lehmann)

10. Oktober 2001, Gewandhaus Großer Saal

The London Philharmonic Orchestra, Dirigent: Kurt Masur

Benjamin Britten: Simple Symphony op. 4
Richard Strauss: Till Eulenspiegels lustige Streiche op. 28
Antonin Dvorak: 8. Sinfonie G-Dur op. 88

Der Maestro hält Hof

Von nah und fern sind sie gekommen, um ihn zu sehen. Aus der nahen Residenzstadt Dresden ist sogar der „König“ mit seinem Gefolge angereist. Als das Orchester seine Plätze auf dem Podium einnimmt, breitet sich im Großen Saal erwartungsvoller Beifall aus. Als er endlich den Saal betritt, kann nicht mehr nur von Applaus die Rede sein. Die Verehrung, die das Leipziger Publikum Kurt Masur entgegenbringt, ist schon sprichwörtlich. Nur für Außenstehende, Nicht-Leipziger, mag sie unwirklich erscheinen.

Um es vorweg zu sagen: Die Gäste aus London wurden ihrem guten Ruf gerecht, der ihnen vorauseilt. Hatte das Gewandhausorchester am Montag mit Brahms 4. Sinfonie unter Herbert Blomstedt schon gezeigt, zu welchen außergewöhnlichen Klangbildern es fähig ist, so stellten sich die Londoner Gäste scheinbar mühelos der Konkurrenz.

Auch Gewandhausdirektor Schulz, der in der Oktober-Ausgabe des Kreuzers konstatierte, dem Gewandhausorchester gehöre langfristig ein Platz unter den fünf europäischen Top-Orchestern, wird anerkennen: Die Londoner sind bereits dort, wo die Leipziger gerne hin möchten.

Aus dem Ensemble einzelne hervorzuheben, fällt nicht leicht. Trotzdem beeindruckten die Streicher in besonderer Art und Weise. Zur Erwärmung lag die „Simple Symphony“ auf den Pulten, die Britten schon als 20-jähriger komponiert hatte. Eingängigkeit und Klarheit sind hier das Motto. Zu Beginn entfaltet sich ein Bild ungezwungener Heiterkeit, das seine Fortsetzung im zweiten Satz findet, wo die Pizzicato spielenden Violinen, Celli, Bratschen und Bässe sich gegenseitig anzuspornen scheinen. Anders als im dritten Satz, wo die Streicher Zeit haben, ihre Töne auszubreiten und in ihnen zu schwelgen. Im Schlusssatz ist es dann Masurs unnachahmliche, trügerisch unbeteiligt wirkende linke Hand, die die Streicher immer wieder fordert: kommt, nicht stehen bleiben, weiter, weiter.

Claude Debussy schrieb 1903 über den „Till Eulenspiegel“: „Dieses Stück ähnelt einer Stunde neuer Musik bei Verrückten.“ So soll es sein. Hörner und Klarinetten stellen uns den Haupthelden vor, wie er die Szenerie betritt. Ehe man sich versieht, zerbrechen unter einem mächtigen Paukenschlag auch schon die ersten Töpfe der Marktweiber. In rasanter Folge schließen sich Liebesabenteuer und erschwindelte Promotion an. Und Masur versteht es, das Verrücktsein und das Schelmische der Komposition aus den Musikern herauszulocken.

Auch in Dvoraks 8. Sinfonie werden Masur und die Londoner zum kongenialen Partner des Komponisten. Gesetzt und geheimnisvoll wird der erste Satz eröffnet. Die Flöte intoniert das Hauptthema, das wie eine Quelle immer wieder hervorsprudelt. Die Streicher verbünden sich mit den Holzbläsern und erzeugen eine Stimmung, die den Hörer in ihren Bann zieht. Im Walzermotiv des dritten Satzes lässt Masur dem Orchester noch einmal Zeit zu schwelgen. Und wenn im Schlusssatz ein folkloristisches Thema mehrfach variiert wird, scheinen sich lediglich die Hörner mit einem kurzen Knarzen der Harmonie widersetzen zu wollen.

Am Ende: Ovationen. Als erster erhebt sich der andere „König Kurt“ und zollt seine Anerkennung. Bereitwillig folgen seine Untertanen, als ob sie seit zwei Stunden auf diesen Augenblick gewartet hätten. Als die Musiker bereits die Bühne verlassen haben, kommt der Maestro noch einmal allein zurück. Die Menschen streben dem Podium entgegen, als ob der Messias erschienen wäre. Sie tänzeln, sie springen, sie humpeln die Stufen hinab. Einige Musiker, die ihre Gerätschaften noch einpacken, blicken sich verwundert an und können sich das Lachen nicht ganz verkneifen.

(Steffen Lehmann)

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