Jacques Offenbach: „Hoffmanns Erzählungen” Premiere (Marcus Erb-Szymanski)

19. Oktober 2001,
Opernhaus, Gewandhausorchester

Jacques Offenbach: ?Hoffmanns Erzählungen? Premiere

Musikalische Leitung: Fédéric Chaslin
Inszenierung, Kostüme: Maria-Elena Amos
Choreinstudierung: Anton Tremmel

Groß Paris in Klein Paris

Der Preis der Unsterblichkeit ist das irdische Glück! Wenn in Offenbachs Oper ?Hoffmanns Erzählungen? die Muse ihren Sohn an die Hand nimmt, um ihn auf den Stationen seiner gescheiterten Liebesbeziehungen zu begleiten, dann wird sie fast zum Pendant eines Mephistopheles. Denn sie achtet streng und eifersüchtige darauf, dass der Dichter nie in den Armen einer realen Frau den höchsten Augenblick findet. Und so scheinen E. T. A. Hoffmanns teuflischen Gegenspieler letztendlich nur Gestalten seines Unbewußten zu sein. Ist er es nicht letztendlich selbst, der allen glücklichen Beziehungen ein Ende bereitet, weil mit der Erfüllung seiner Sehnsucht die Quelle seiner Schöpferkraft versiegen würde? ?Frei aber einsam? hieß die romantische Parole, nach der im 19. Jahrhundert nicht nur gedichtet, sondern auch komponiert wurde. Einsam bleibt Hoffmann in dieser Oper, frei von allem, was ihn an das Leben binden könnte, und auf diese Weise auch frei für seine einzigartige Kunst. Was für ein Thema, wie romantisch und wie ? deutsch.

Was mochte nun einen Jacques Offenbach an diesem Sujet reizen? War es die Rückbesinnung auf seine deutschen Wurzeln? Oder war es mehr ein intellektuelles Interesse daran, die Doppelbödigkeit und Mehrdimensionalität dieser Geschehnisse um den deutschen Dichter mit allen zu Gebote stehenden Mitteln musikalisch zu gestalten? Denn der narrative Gehalt des Bühnengeschehens ist ein permanentes Pendeln zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen einer durch die Brille des Dichters (insofern ist das Verhältnis zu Olympia symptomatisch) gesehenen Realität, die durch die Prosa des Alltags als ein trügerischer Schein denunziert wird und sich dennoch ? gerade in ihrer radikalen Negativität ? als eine tiefere ästhetische Wahrheit hinter der tristen Gegenwart herausstellt. Ein Kunstwerk über die romantische Kunst und dabei doch selbst kein romantisches Kunstwerk. So jedenfalls könnte man annähernd den eigenartigen Charakter dieser Oper bezeichnen, in der Offenbach mit seiner klaren, im höchsten Maße kalkulierten und dabei nicht selten ironischen Musiksprache immer auf Distanz zur Geschichte, die erzählt wird, geht und dennoch auf seltsame Weise mehr und mehr in ihre Fänge gerät. Spätestens das dramatische Finale macht ganz deutlich: Es ist keine Komische Oper, die hier komponiert wurde!

Die ästhetische Komplexität, Hintergründig- und Mehrdeutigkeit des Sujets, der Musik und der ganzen Konzeption, die schon im Libretto von Jules Barbier, das in enger Zusammenarbeit mit Offenbach entstand, angelegt ist, machen dieses Werk schwieriger als jede andere ?romantische Oper?. Eine szenischen Umsetzung ist dem ästhetischen Gehalt nur dann gewachsen, wenn es ihr gelingt, das Ironische ins Groteske und das Dramatische ins Dämonische umschlagen zu lassen und dennoch den kühlen, analytischen Blick des scheinbar unbeteiligten Beobachters zu suchen. Dann verbinden sich die spezifisch Hoffmansche Romantik mit ihrem Hang zur skurrilen Befremdlichkeit einer tiefenpsychologischen Maskerade mit der unbestechlichen Klarheit der charmanten Offenbachschen Raffinesse, die, so hinreißend sie selbst auch ist, sich kaum emotional hinreißen lässt und so gut wie nie aus der Fassung gerät.

Doch damit steht man in Leipzig schon vor dem ersten Problem. Denn das Gewandhausorchester definiert sich geradezu über die vor allem deutsche Musik des 19. Jahrhunderts, über Komponisten wie Beethoven, Brahms und Bruckner. Das Leichte und erst recht das Witzige liegt ihm nicht recht. So hat es seine stärksten Momente immer dann, wenn die Musik, vor allem im vierten und fünften Akt, dramatischer wird. Aber im ganzen gesehen bleibt vom französischen Esprit letztendlich nur deutsche Schwerfälligkeit übrig. Die Tempi wirken nicht spritzig, sondern schleppend; die Grenzen zum Dämonischen werden in aller Gemütlichkeit passiert. Frédéric Chaslin am Pult gelingt es trotz seiner Erfahrungen auch mit diesem Stück über weite Strecken nicht, das Orchester mitzureißen. Erst bei dem dramatischen finalen Zug, den die Oper gegen Ende bekommt, wirkt das Orchesterspiel packend und nimmt auch den Hörer gefangen. Doch dabei gerät die Musik fast schon wieder zu expressiv.
Ob diese Oper wirklich die glücklichste Wahl für die Eröffnung der neuen Spielzeit und der Tätigkeit des neuen Intendanten Henri Maier war, sei dahingestellt. Der Franzose in Deutschland wollte mit diesem Kunstwerk eines Deutschen in Frankreich ein Zeichen setzen. Und nicht nur damit. Schon vor Beginn der Vorstellung betonte Maier, dass außer dem Dirigenten alle Beteiligten ihr Debüt mit diesem Stück geben. Dies muss man zweifellos als eine mutige Entscheidung des Intendanten werten, der angekündigt hat, dass die Leipziger Oper im Verlauf seiner Amtszeit zu einem Theater werden wird, dass sich an europäischen Maßstäben misst. Nun hat er deutlich gemacht, wie das erreicht werden soll: durch ein junges, sich entwickelndes Sängerensemble und nicht durch teuer eingekaufte Superstars. Auch wenn mancher sensationsgierige Feuilletonist darüber die Nase rümpfen mag, prinzipiell ist diese Entscheidung begrüßenswert. Denn mit ehrgeizigen jungen Künstlern ist zweifellos viel zu erreichen und dem Publikum ist auch mehr damit gedient, wenn eine gewisse Kontinuität im Repertoire vorhanden ist, als wenn die Jagd nach teuren Prominenten dazu führt, dass schon nach wenigen Vorstellungen Inszenierungen wieder abgesetzt werden müssen, weil die finanziellen Mittel erschöpft sind.

Und dennoch: Als Henri Maier nach der Vorstellung noch einmal wiederholt, dass auf fast allen Positionen Debutanten am Werke waren, klingt es fast wie eine Entschuldigung. Denn es ist dem Publikum eine gewissen Enttäuschung anzumerken. Dass das Konzept des Intendanten an diesem Abend nicht aufging, dürfte an einem Fehler liegen, den Maier auf seine eigene Kappe nehmen muss. Wenn die Protagonisten mit jungen Akteuren besetzt werden, die mit dieser Rolle ihr Debut geben, dann ist es fast schon leichtsinnig, sie keinem erfahrenen Regisseur anzuvertrauen. Frau Maria-Elena Amos ist eine wunderbare Bühnen- und Kostümbildnerin. Ihr Können war in Leipzig schon in Dieter Schnebels ?Majakowskis Tod ? Totentanz? und in Udo Zimmermanns ?Levins Mühle? zu bewundern. Und auch diesmal sind Kulisse und Ausstattung geistreich und fantasievoll. Doch in Sachen Regie lässt sie die Akteure mit ihren Rollen ziemlich allein und ist ihnen dort, wo sie es nicht tut, eher hinderlich.
Die Bühne beschreibt eine Art Kulturcafé. Schwarze Rohrstühle vor einem schwarzen Flügel, schwarze Wände, die dennoch durchsichtig sind. Die Farblosigkeit ist gewollt. Es ist wie bei einem Fernseher, bei dem man die Farben abgestellt hat und die Kontraste und Schattierungen des strengen Schwarzweiß genießt. Ein solcher Genuss beruht auf der Gewissheit, dass man jederzeit die Farbe wieder einstellen könnte. In diesem Sinne ist wohl auch das bunte, jugendstilähnliche Bild im Hintergrund der Bühne zu verstehen und die brennenden Kerzenleuchter, die für ?romantische? Nostalgie sorgen.

Und es gibt noch mehr Farbtupfer. Coppelius etwa, der wie ein moderner Papageno daherkommt und einen Himmel voller leuchtender Augen zaubert, mit denen ein Hoffmann tausendfach seine Geliebte anschauen mag. Doch solch schöne Einfälle versagen der Regisseurin, sobald es ans Szenische geht. Im Grunde genommen stellt sie nur einen optischen Rahmen für die Geschichte her. Für alles, was sich innerhalb dieses Rahmens abspielt, geht Amos den Weg des geringsten Widerstandes. Sie gestaltet die Situationen nicht, sondern diese ergeben sich eher von selbst.

Dadurch stehen die Protagonisten oft ziemlich ratlos umher und sind neben den hörbaren stimmlichen Anstrengungen auch szenisch einfach überfordert. Robert Chafin als Hoffmann hopst wie ein trottelig-gutmütiger Tanzbär über die Bühne, Marika Schönberg als Antonia geht ihre Rolle viel zu dramatisch und stimmlich zu kräftig an, Martin Ackermann als Dr. Miracle bewegt Arme und Beine wie ein Hampelmann, wenn er mit seinen teuflischen Beschwörungen Antonia ins Verderben reißt. Daß er sich überhaupt bewegt, ist dabei noch als ein Glück zu betrachten, denn über weite Strecken wird Oper aus dem Stand versucht: Große Gesten, Rampenstehen, schmachtend in die Augen sehen. Und immer wieder werden in sportreifer Manier Todes-Fälle im buchstäblichen Sinne verstanden: Mit sicherem Blick für die Landung und guter Handabwehr wird gestürzt, was das Zeug hält. Die Tragik hält sich bei derartigen Anblicken in Grenzen. Am meisten Glück hat noch Eun Yee You als Olympia, denn dieser wird ? als Puppe ? von der Regisseurin mehr Aufmerksamkeit zuteil. Mit goldenem Haar und fahrbarem Untersatz erobert sich diese bewegliche Menschenmaschine die Herzen Hoffmanns und des Publikums.

Und dennoch bleibt dieser Abend durchaus in sympathischer Erinnerung. Nicht nur wegen des charmanten Werbens des Intendanten für seine Akteure, sondern auch, weil bei den Hauptdarstellern der unbedingte Wille zu spüren war, die Materie zu bezwingen. Robert Chafin kämpft mit vollem Einsatz bis zum letzten Ton mit seiner Rolle und schafft es so, das Publikum zu überzeugen. Eun Yee You und Marika Schönberg lassen musikalisch so einiges erwarten, Anne-Marie Seager bewältigte sanglich und darstellerisch die schwierige Doppelrolle als Muse und Nicklausse erstaunlich differenziert. Ain Anger war als Crespel eindrucksvoller noch als Martin Ackermann in der Rolle des Universalbösen, aber auch der wusste sich selbst gegen Ende noch zu steigern. In diesem Ensemble steckt ein größeres Potential als das, was sich unter den Bedingungen dieser Premiere verwirklichen ließ. Wir dürfen gespannt sein, wie es sich in Zukunft noch entfalten wird.

(Marcus Erb-Szymanski)

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