Georg Friedrich Händel: „Israel in Egypt” (Frank Sindermann)

26. Oktober 2001 Gewandhaus

Georg Friedrich Händel, „Israel in Egypt“

Oratorium in drei Teilen, HWV 54 (Fassung von 1756/1757)

MDR Rundfunkchor
MDR Sinfonieorchester
Solisten: Catherine Bott (Sopran I), Linda Perillo (Sopran II),
Christopher Josey (Altus), Mark Tucker (Tenor),
Christian Immler (Bass I), Albrecht Süss (Bass II)
Dirigent: Howard Arman

Ehrenrettung eines Außenseiters

Handelt es sich bei Georg Friedrich Händels Oratorium „Israel in Egypt“ tatsächlich um eine dramatische „Tour de force“, wie es ein Kritiker ausgedrückt hat? Sehen wir in ihm einen „mißglückten Glücksfall“ vor uns, wie Silke Leopold es formulierte, ein merkwürdig bombastisches und doch zugleich brüchiges Werk, ein gescheitertes Experiment, wenn auch auf hohem Niveau? Äußerungen wie diese sind auch heute nach wie vor zu hören, und sie stehen in einer langen Tradition, die eigentlich bis in die Zeit der Uraufführung im Jahr 1739 zurückreicht. Der Mißerfolg des Oratoriums beim Publikum veranlaßte Händel zu diversen Eingriffen, die dem Werk jedoch nicht zu größerer Popularität verhelfen konnten. Erst im 19. Jahrhundert nahm seine Beliebtheit zu, was nicht zuletzt dem Einsatz Felix Mendelssohn Bartholdys zu verdanken war, der sich um eine möglichst originalgetreue Aufführung des Oratoriums bemühte. Da die handschriftliche Fassung Händels lediglich die Teile II und III enthielt, erklang „Israel in Egypt“ damals nur in zweiteiliger Form. In der Folgezeit wurde die zweiteilige Fassung mehr und mehr zur üblichen und bevorzugten Version. In den letzten Jahren ist immer wieder darauf gedrungen worden, das Werk wieder mit allen drei Teilen aufzuführen, so z. B. durch Klaus Kropfinger, der die frühe Rezeptionsgeschichte des Oratoriums ein „Scherbengericht“ nannte und die so lange favorisierte Fassung als „Schrumpfform“ brandmarkte.

All jene Händel-Anwälte hätten mit der jüngsten Aufführung im großen Saal des Gewandhauses durchaus zufrieden sein können, denn Howard Arman, inzwischen renommierter Interpret der Händelschen Oratorien, entschied sich für eine Aufführung in drei Teilen. Er griff hierbei nicht auf die Urfassung zurück, sondern auf die zweite Fassung von 1756/1757, die als ersten Teil statt eines ursprünglichen Klagegesangs der Israeliten über Josephs Tod poetisierend-reflektierende Texte zu Musik aus anderen Werken Händels enthält. Gesteht man dem Oratorium seine drei Teile zu, verschwinden viele Probleme, die „Israel in Egypt“ bis heute nachgesagt werden, wie von selbst (nicht ganz, aber fast). Das starke Übergewicht des Chors, der fast den gesamten zweiten Teil allein bestreitet und die Solisten beinahe zu Statisten degradiert, wird durch die Hinzufügung des ersten Teils aufgefangen, indem der zweite Teil nun symmetrisch von stärker solistisch geprägten Teilen umklammert wird. Der Vorwurf fehlender Balance in der formalen Konzeption, der immer wieder gern erwähnt wurde und wird (vor allem in Gegenüberstellung mit dem „Messias“) wird dadurch stark entkräftet. Trotzdem ist und bleibt „Israel in Egypt“ nach wie vor eine Ausnahme im Händelschen Oratorienschaffen (ähnlich wie der bereits erwähnte „Messias“): Es gibt keine handelnden Personen, nur Erzählungen und Reflexionen, wobei letztere den ganzen Inhalt der Teile I und III ausmachen. Stark kontrastierend dazu verhält sich die Handlungsfülle des Mittelteils: Schlag auf Schlag folgen die Beschreibungen der israelischen Knechtschaft, der zehn Plagen über Ägypten, des Zuges der Israeliten durch das Rote Meer und der ertrinkenden Soldaten des Pharaos. Der zweite Teil ist ein Musterbeispiel äußerster inhaltlicher Konzentriertheit. Außerdem stellt er erhebliche Anforderungen an den Chor.

Was für ein Glücksfall war es da also, daß die Realisierung des Chorparts an diesem Abend in den allerbesten Händen lag! Der hervorragend aufgelegte MDR Rundfunkchor unter seinem Leiter Howard Arman wurde seinem exzellenten Ruf vollauf gerecht. Ein Höchstmaß an Homogenität und Geschmeidigkeit, ungetrübte Intonation auch an heiklen Stellen (mit kleinen Abstrichen im Sopran), gute Textverständlichkeit und die schon so oft gelobten weiteren Tugenden des Chors boten einen musikalischen Hochgenuß. Arman nutzte die immensen Potentiale stimmlicher Differenzierung zu subtiler Textausdeutung. Er ließ die Insekten schwirren, den Hagel donnern, in beklemmender Schattenhaftigkeit die Nacht hereinbrechen, ließ Jubel und Furcht auf beeindruckende Weise Gestalt annehmen.

Dem Chor zur Seite stand ein beachtliches Solistenensemble, gebildet aus ausgewiesenen Experten für das barocke Repertoire. Wenn auch die Anlage des Oratoriums den Solisten eindeutig die Nebenrolle zuwies, so gelang es doch den meisten von ihnen durchaus, einen prägnanten Eindruck zu hinterlassen. Catherine Bott überzeugte mit differenzierter Gestaltung und sauber gesungenen Spitzentönen; auch die zweite Sopranistin, Linda Perillo, nahm mit stimmlicher Nuancierungskunst für sich ein, wenn auch die Textverständlichkeit manchmal hätte besser sein können. Christopher Josey gab einen mehr als respektablen Altus ab, dem auch schwierige Passagen mühelos gelangen, der aber neben den stimmlichen Mitteln auch über ein feines Gespür für den Text verfügte. Eine vollendete Schlußkadenz in der Arie „What though I trace each herb and flow´r“ rundete die hervorragende Leistung ab. Christian Immler und Albrecht Süss (Chorsolist) ergänzten sich im Bass-Duett des dritten Teils auf sehr überzeugende Weise, wobei der „Chorsänger“ Süss dem „Solisten“ Immler gesanglich kaum nachstand. Einziger Wermutstropfen des Abends war der Tenor Mark Tucker. Eine Grundhaltung ständiger Angespanntheit und die Tendenz zu theatralischer Übertreibung verhinderten ein sensibles Eingehen auf den Text. Wo dieser nämlich von „sacred cheer“, also „weihevoller Freude“ sprach, klang Tuckers Darstellung kaum weniger gequält als sonst. Kleinere Unsauberkeiten in den Koloraturen konnten angesichts der hervorragenden Referenzen im Programmheft nur verwundern. Diese Kleinigkeiten ändern aber nichts daran, daß die Aufführung insgesamt als nahezu perfekt beurteilt werden muß. Der Star des Abends war eindeutig der Chor und erwartungsgemäß erhielt er auch den größten Beifall. Man kann Howard Arman nur gratulieren und ihm für die nächste Aufführung eines Händelschen Oratoriums wünschen, daß alles genau so gut gelingt, wie an diesem Abend.

(Frank Sindermann)

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