10. November 2001 Schauspielhaus
Euro-Scene Leipzig
Tanztheater: ?Scratching the Inner Fields?
(Die inneren Felder aufreißen)
Ensemble: Ultima Vez, Brüssel,
Choreografie und Bühne: Wim Vandekeybus
Darstellerinnen: Laura Aris Alvarez, Marie-Hél?ne Bos, Carole Karemera, Iona Kewney, Natalia Labiano, Melina Mastrotanasi, Céline Perroud
Komposition: Eavesdropper (Yves de Mey)
Sound und Live Electronics: Josh Martin
Text: Peter Verhelst
Dramaturgie: Inne Goris
Kostüme: Isabelle Lhoas
Frauen sind wilde Tiere!
Düster ist die Bühne und still. Ein Lichtkegel lockt Frauen wie Falter aus dem Dunkel hervor. Herabfallende nasse Stoff-Fetzen lösen einen Tumult aus. Die Tänzerinnen kämpfen um jeden Lappen als gelte es ihr Leben. Zerstörerische Geräusche wie aus einem Gruselschocker verstören den Zuschauer ebenso wie die grausamen Verrenkungen eines tödlich getroffenen Körpers. Was wird hier gespielt?
Von Märchen ist die Rede, die niederstürzen und ?sich geradewegs durch Deinen Körper bohren?. Doch es sind, weiß Gott, keine Ammen- und Hausmärchen, die Wim Vandekeybus in seinem Stück beschwört. Es ist nicht deren moralisch geglättete Oberfläche, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen beschwichtigt, nein es ist deren archetypischer Grund, den dieses Ensemble von Frauen aufwühlt und dabei in Tiefen dringt, die jenseits von Gut und Böse liegen.
Aus einem Ballett zu Geräuschen der Atemlosigkeit formieren sich bald schon Tänze zu zweit, zu dritt, wo in genialen Verflechtungen der Körper die Grenzen zwischen Kampf und Tanz nicht mehr auszumachen sind. Wenn sich Arme und Beine um einander winden wie Tentakel eines gefährlichen Ungeheuers, entstehen Szenen, in denen sich Menschen in liebevoller Annäherung so provozieren, dass ? zumal Männer an diesem Abend nicht existent sind ? das Kriegerische das Erotische des Tanzes ersetzt und, wie es im Text heißt, ?Liebe und Tod Varianten derselben Sache? werden.
Das Verblüffende, Faszinierende und Geheimnisvolle der Szenen, die an diesem Abend durch eine einzigartige Choreografie und die staunenerregende Körpersprache der Darstellerinnen, deren tänzerische Fähigkeiten regelrecht artistisch sind, entworfen werden, ist das Frauenbild, das keinem der üblichen Klischees, vor allem keinem der erotischen Klischees, entspricht, von denen die unsägliche Bilder- und Gedankenwelt der Medien und der Kunst sonst überschwemmt wird.
Selbst wenn sich die Frauen hastig in dunklen Ecken umziehen, selbst wenn sie einzeln entblößt und verloren auf der Bühne zurückbleiben, während sich die anderen genüßlich in Schale werfen, selbst wenn sie jede kleinste Regung ihres Körpers bis ins letzte Detail beherrschen, selbst dann sind die Bilder trotz ihrer sinnlichen Ausdruckskraft niemals sexuell betont. Die Protagonisten dieser mythischen Welt, die neben einer bedrohlichen zeitlosen Gegenwart keine historischen Kulissen kennt, definieren sich nicht in Relation zum anderen Geschlecht, das heißt, sie definieren sich selbst nicht geschlechtlich. Auch wenn der vieldeutige Gehalt der geheimnisvollen ? fast symbolistisch wirkenden ? Poesie von Peter Verhelst sicher ganz anders interpretiert werden könnte, kommt in den stets uneindeutigen Szenen so etwas wie der ungezähmte Archetypus von Amazonen zum Vorschein. Aber in einer so übersteigerten Art, dass man unwillkürlich annehmen möchte: Frauen sind wilde Tiere! In einer Reihe von unzusammenhängenden Abschnitten werden die Schichten der kulturellen Entwicklung und der Zivilisation abgetragen, bis sich die Weiblichkeit nur noch über den Kampf, über die Grausamkeit, über den Widerstand gegen die Welt bestimmt. Und gerade dadurch wird die Scheinheiligkeit der Zivilisation gnadenlos bloßgestellt.
Doch es soll nicht der Eindruck erweckt werden, als stünde eine wie auch immer geartete Botschaft, eine ?Message? hinter dem Stück. Die Inszenierung bekennt sich vorbehaltlos zu einer uneingeschränkten Subjektivität. Die Bilder sprechen durch ihre Suggestion, nicht durch ihre Deutung. Aber das ist auch ihre Schwäche. Denn auf Dauer weiß man nicht, ob man jedem dieser emotionalen Ausbrüche unbedingt folgen möchte. Nicht nur die Effekte der musikalischen Umrahmung, die eine eigene narrative Ebene entwickeln, sondern auch die szenischen Abläufe haben etwas Nötigendes an sich. Seien es die kotzenden, die sich lebendig begrabenden oder die wie Phönix wieder aus der Asche auferstehenden, aber in Zuckungen und Verrenkungen letztendlich doch erlöschenden Körper: so originell die Einfälle im Einzelnen auch sind, das Drastische als permanentes Stilmittel wird auf Dauer monoton. Und dennoch: Gegenüber den möglichen Einwänden ist die Faszination ungleich höher, die von diesem überwältigenden Stück wahrhaft modernen Tanztheaters ausgeht.
(Marcus Erb-Szymanski)
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