Michael Freund, Künstlerischer Leiter der Leipziger euro-scene 2001 (René Granzow)

16. November 2001

Michael Freund, Künstlerischer Leiter der Leipziger euro-scene 2001

Michael Freund hat in diesem Jahr erstmalig die künstlerische Leitung der euro-scene übernommen. Der fünfunddreißigjährige Theaterwissenschaftler aus Ostberlin ist seit 1997 bei dem Leipziger Festival dabei, nachdem er zuvor als freier Journalist, Kritiker und Theatermacher gearbeitet hat. Im Interview erläutert er sein Konzept, äußert Gedanken zum diesjährigen Thema ?Leibesvisitationen? und zieht abschließend eine persönliche Bilanz.

Herr Freund, Sie haben in diesem Jahr erstmals die künstlerische Leitung der Leipziger euro-scene übernommen. Wie kam es dazu?

Seit 1997 arbeite ich bei der euro-scene. Angefangen habe ich in der Presseabteilung, dann zunehmend aber auch bei der Programmgestaltung mitgewirkt. Nebenbei gestaltete ich die Konzeption anderer Festivals in Berlin, wie zum Beispiel ?Tanz im August? und ein Pantomime-Theaterfestival. Dieses Jahr habe ich die Leitung der euro-scene übernommen, weil Frau Ann-Elisabeth Wolff, die Festivaldirektorin der euro-scene und sonstige Programmchefin, das Tanzfestival ?Tanzplattform? im Februar 2002 in Leipzig organisiert und damit sehr viel zu tun hat.

Gibt es grundlegende Unterschiede bei der Herangehensweise, bei der Konzipierung eines solchen Ereignisses zwischen Ihnen und Frau Wolff? Haben Sie die Schwerpunkte anders gesetzt?

Frau Wolff als Festivaldirektorin und ich arbeiten natürlich sehr eng und gut zusammen. Aber es gibt dennoch ein unterschiedliches Herangehen, eine produktive Differenz zwischen uns. Das Programm für das diesjährige Motto ?Leibesvisitationen? habe ich vor circa anderthalb Jahren entwickelt und mich dabei von der Idee leiten lassen, was Theater im Kern ausmacht, was im wesentlichen an Theater interessieren könnte und wann Theater ? wie auch immer ? für eine soziale Wirklichkeit steht. Ich habe mich also gefragt, inwieweit der Körper durch seinen spezifischen Einsatz auf dem Theater Bezug auf eine Realität außerhalb des Theaters nehmen könnte beziehungsweise wie sich die Auseinandersetzung mit dem Körper in Form von Tanz darstellen läßt. Das Thema in diesem Jahr unterscheidet sich also inhaltlich und konzeptuell von denen der letzten Jahre, wo eher andere Schwerpunkte gesetzt wurden, wie zum Beispiel Bach und seine Musik als Aspekt für modernes Theater oder Tanz und Theater aus Lyon. Und mit diesem Hintergrund sind eben auch bestimmte Aktivitäten des Rahmenprogramms zu nennen, wie unter anderem der Boxkampf, der die körperliche Auseinandersetzung im Sport thematisiert, oder die body/check-Ausstellung. Wir haben einfach versucht, uns in einem sehr breiten Spektrum, auch neben dem Theater, mit dem Körper und der Körperlichkeit zu beschäftigen.

Sie haben also bewußt einen weiteren Rahmen für das diesjährige Festival gewählt?

Ja, erstens weil das Thema uns die Möglichkeit dafür bot, zweitens denke ich, daß es für die Zukunft interessant und wichtig wäre, die euro-scene mit anderen Bereichen zu verbinden. Man muß sich ja die Frage stellen, was man dem Zuschauer nach dem 11. Jahr noch anderes, neues bieten kann. Ich könnte mir vorstellen, das Theaterfestival perspektivisch zu einem Kunstfestival zu erweitern.

Woran denken Sie da zum Beispiel?

Mir fällt unter anderem die Galerie für Zeitgenössische Kunst ein. Man könnte versuchen, eine Kopplung von verschiedenen Bereichen zu erreichen, indem man gemeinsam überlegt, welche Themen in der zeitgenössischen Kunst aktuell sind. Worüber denken Künstler, so zum Beispiel bildende Künstler, heute nach und wo gibt es Berührungspunkte zum Theater, das natürlich nach wie vor der Kernpunkt unserer Betrachtung bleibt. Es ist sehr wichtig, in Bewegung zu bleiben, um stets dem Anspruch des Festivals gerecht zu werden, ein anderes, ein modernes Theater nach Leipzig zu holen.

War das diesjährige Thema des Festivals schon ein Schritt in diese neue Richtung? Haben sie deshalb das Motto ?Leibesvisitationen? gewählt?

Dieses Thema ist nicht grundsätzlich neu; es wurde schon durch andere Festivals aufgenommen, die sich zum Beispiel ?Körperwelten? oder ?Sprachen des Körpers? nannten. Wir wollten nicht nur Körpertheater nach Leipzig holen, sondern vor allem Theater präsentieren, das tatsächlich den Körper in verschiedenen Sichtweisen thematisiert. In meinen Augen ist die Auseinandersetzung mit dem Körper noch lange nicht abgeschlossen. Man muß sich immer wieder fragen, wie gehen wir mit unserem Körper um, was kann ich neu entdecken und wie kann man sich mit Hilfe seines Körpers ausdrücken. Und dafür wollten wir den Blick öffnen. Deshalb haben wir dieses Thema gewählt.

Was sagen Sie zu Raimund Hoghes Worten: ?Nur wer den Körper in den Kampf wirft, kann ihn verteidigen??

Diese Worte von Hoghe, der wiederum Pasolini zitiert, bedeuten für mich: Den Körper auf der Bühne zu verteidigen, heißt, ihn bewußt einzusetzen. Man zeigt, daß er da ist und daß er sozusagen Wert ist, in seiner ganzen Vielfalt und auch in seiner Radikalität gesehen zu werden. Das Aufmerksam-Machen auf den Körper hat immer auch eine kulturkritische Ambition.

Nach welchen Kriterien wurden die verschiedenen Produktionen ausgewählt? Welche Verbindungen gibt es dabei in andere Länder?

Wir haben ja schon langjährige Kontakte ins Ausland und zu anderen Veranstaltern. Es gibt ein internationales Netzwerk, ?Informal European Theatre Meeting?, in dem ungefähr 350 Veranstalter und Theatermacher vereint sind. Diese treffen sich in regelmäßigen Abständen ? einmal, manchmal auch zweimal im Jahr ? und dabei findet ein reger Gedankenaustausch statt. Dort diskutiert man über die ?Szene?. Des weiteren bekommen wir natürlich als Veranstalter eines Festivals sehr viel Informationsmaterial, Videos etc. von verschiedenen Produktionen, die wir dann sichten. Ich bin zu vielen anderen Festivals gefahren, habe geschaut, was es so gibt und was man mit wem eventuell machen könnte. Da muß man dann die eine oder andere Arbeit genauer betrachten und sehen, inwieweit der oder die Künstler das Thema originell, seriös und konzentriert umsetzen. Es gibt aber auch Leute, die man auf jeden Fall bei einem Festival wie der euro-scene dabeihaben will. Wie etwa den Kroaten Damir Bartol Indoš, der das Thema sehr eigenwillig und skurril auf die Bühne bringt, sich schon seit 20 Jahren damit auseinandersetzt und ganz genau weiß, was er will. Oder auch Diquis Tiquis, dessen Arbeit seit geraumer Zeit verfolgt und geschätzt wird.

Gilt die euro-scene nicht auch als Plattform für Gruppen, die noch nicht so etabliert sind?

Ja, unbedingt. Darauf legen wir neben der Einladung bekannter Künstler sehr viel Wert. Es ist für ein Festival sehr bedeutend, unbekannteren, aber deshalb nicht immer schlechteren Produktionen, die Möglichkeit zu bieten, sich einem großen Publikum vorzustellen. Einige eigene Entdeckungen zu präsentieren, ist für uns wichtig. Deshalb ist es auch sehr gut, wenn manche dieser Gruppen bei der euro-scene ihre Uraufführung bestreiten. Generell sind wir sehr offen für Neues.

Welche Rolle spielt die euro-scene innerhalb Europas und welche Bedeutung hat dieses Festival für Leipzig?

Innerhalb von Europa ist die euro-scene etwas Besonderes. Es gibt in anderen Städten sehr große Festivals, wie in Avignon oder Edinburgh. Die haben einen anderen, breiteren Anspruch, mit dem wir uns nicht vergleichen wollen. Aber, wenn man sich die Theaterfestivals vergleichbarer Größenordnung anschaut, wie z.B. ?Théâtre de la ville? in Paris oder ein Festival in Zagreb, dann nimmt das Festival in Leipzig schon eine Sonderstellung ein. Die euro-scene war immer eine Spezialität. Erstens haben wir uns in jedem Jahr einem ganz speziellem Thema gewidmet. Zweitens, und das versuchte ich vorhin schon zum Ausdruck zu bringen, setzen wir neben etablierten und bekannten Produktionen sehr stark auf neue und neuartige Konzepte. Die euro-scene möchte sich dem, was augenblicklich ?en vogue? ist und von Festival zu Festival gereicht wird, ein wenig entziehen und die fremden, noch unbeschrittenen Wege nicht scheuen. Das findet in den ausländischen, aber auch in den deutschen Feuilletons Beachtung und Anerkennung.

Für Leipzig als Stadt ist es eine Chance, internationales, zeitgenössisches Theater gebündelt zu erleben und die einzigartige Atmosphäre eines solchen Festivals auf sich wirken zu lassen. Und wie sich die Dok-Filmtage für den Film oder im Bereich der Musik die Jazztage als Größe im kulturellen Leben in Leipzig etabliert haben, gilt das gleiche für die euro-scene im Bereich von Theater und Tanz. Was für uns auch sehr wichtig war, ist die Vernetzung der verschiedenen Spielstätten, ein Austausch zwischen dem Schauspielhaus und dem Theater LOFFT zum Beispiel, was zu gegenseitigem Wahrnehmen und Respekt führt.

Gab es für Sie persönlich ein Highlight bei der diesjährigen euro-scene?

Abgesehen von einigen Aufführungen, die großartig waren und auch sehr gut angekommen sind ? ich denke da unter anderem an den Eröffnungsabend mit dem Stück von Angelin Preljocaj oder an die Sommernachtstraum-Interpretation von Oskaras Korsunovas ? hat mich besonders die Fusion mit der 24-Stunden-Ausstellung fasziniert. Das war ein Projekt, was in seiner Einmaligkeit etwas Außergewöhnliches darstellte. Und dann bin ich natürlich sehr froh, daß die Eigenproduktion der euro-scene ? die Produktion „FCP“, die gemeinsam mit dem LOFFT entstandt ? so gut funktioniert und so großen Erfolg gehabt hat.

Wie lautet Ihr Fazit zum diesjährigen Euro-scene-Festival?

Ich glaube, daß das Thema, was wir in seiner Vielseitigkeit angeboten haben, im allgemeinen ganz gut angekommen ist. Natürlich gab es auch Stücke und Aktionen, die nicht jeden gleichermaßen ansprachen. Aber das Publikum, welches man mit einem Tanz- und Theater-Festival erreichen kann, haben wir gewonnen. Ich denke, daß auch die Atmosphäre, die sich über die Tage entwickelt hat, sehr schön war. Das Publikum, aber auch wir selbst, haben sie sehr genossen. Und in jedem Jahr gewinnt man nützliche Erfahrungen hinzu, die man im folgenden Jahr umsetzen, verarbeiten kann.

Haben Sie schon Ideen oder gar ein Konzept für das nächste Jahr?

Ja, wir arbeiten bereits an einem Konzept und haben auch schon klare Vorstellungen. Es geht in Richtung der flämischen Theaterlandschaft.

Herr Freund, vielen Dank für das Gespräch!

(Das Gespräch führte René Granzow.)

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