Premiere: Sex sells. (Ian Sober)

18. November 2001 Leipziger Schauspiel (Horch und Guck)

Sex sells. (Premiere)

nach „Die zwölf Gespräche der Surrealisten über Sexualität“

Textfassung von Hannes Hametner

Mimi: Sandra Hüller
André Breton: Dieter Jaßlauk
Raymond Queneau, Genbach: Jörg Dathe
Antonin Artaud, Jean Baldensperger: Thomas Dehler

Regie: Hannes Hametner
Bühne und Kostüme: York Landgraf
Musik: Pixelpack von Trotha
Dramaturgie: Carmen Wolfram

Neunundsechzig? Eher eine Sechsundneunzig

LOVE steht da in großen Lettern, irritierenderweise, sollte es nicht um Sex gehen? Nun, die Thematik soll weiter gefaßt sein, lassen wir uns überraschen. Die Buchstaben wechseln mehrfach ihre Farben und lösen sich plötzlich in Rauch auf. Was man nun zu sehen kriegt, ist allerdings eigenartig: Eine blonde Mimi aus „La Boh?me“ in goldener Lingerie, aber mit einem zarten Schleier, singt ihre Arie, in voller Länge und auf deutsch, wodurch einem der Kitsch des Textes so recht bewußt wird. Vielleicht das Idealbild der Frau, wie es damals populär war? Ihr Zimmer, in dem sie wie in einem Käfig eingesperrt ist und das auch ein wenig an ein Himmelbett erinnert, wird weggerollt: Zeit für die nächste Merkwürdigkeit. Man sieht eine Art Zelt, aber denkt vielleicht auch an eine Bettdecke, unter dem zwei Männer mit Taschenlampen sich wie kleine Jungs über peinlich wichtige Dinge unterhalten. Dann nähern sie sich uns wie ein Nachtgespenst mit großen Taschenlampenaugen, ein Dritter stößt hinzu: Die Diskussion kann beginnen.

André Breton, Raymond Queneau und Antonin Artaud stellen Fragen einfacher Natur und geben oft Antworten differenzierter Natur, diese letzteren auch mitzubekommen setzt allerdings wegen der Geschwindigkeit, mit der sie heraussprudeln, ein hohes Maß an Konzentrationsfähigkeit beim Zuhörer voraus. (Wissen die Schauspieler in jedem Moment selber, was sie sagen?) Zwischendurch tritt mal wieder Mimi in ihrem Zimmerchen auf und spuckt auf naturalistischste Weise Blut. Es gibt sie aber auch in einer entgegengesetzten Rolle als burschikose Emanze, die die Männerrunde (später wird Queneau durch den Priester Genbach abgelöst, Artaud durch einen gewissen Jean Baldensperger) mit respektlosen Meinungen aufmischt.

Allgemein wirken die Männer ein bißchen vertrottelt, insbesondere Breton (Dieter Jaßlauk), der Anfang der Dreißiger noch keine Vierzig war, wird als geistloser alter Mann dargestellt, einem Concierge ähnlicher als dem Erfinder des Surrealismus. Denn den möchte man sich nicht als sächselnden Bewunderer von Hinterteilen vorstellen. Artaud (Thomas Dehler, der auch – völlig verändert – Baldensperger gibt) erscheint zwar intellektuell, aber umso verklemmter. Sein Text ist dabei vielleicht am interessantesten. Voller Energie spielt Jörg Dathe den Queneau, verknäult sich an einer Stelle sogar in einem Stuhl und geht auch problemlos als lüsterner Katholik Genbach durch, der mit Mimi anzubandeln sucht. Man kann Regisseur Hannes Hametner bestimmt nicht vorwerfen, daß zu wenig Aktion auf der Bühne wäre, schließlich sind’s ja auch die Surrealisten, und da erwartet man keine trockenen Diskussionen.

Das Problem ist nur, daß man oft etwas ratlos vor dem einen oder anderen Einfall steht und mitunter der Klamauk die Phantasie ersetzen muß. Beim Thema Homosexualität stülpen sich die Schauspieler pervers-große Waschpulverpakete der Marke „Omo“ über den Kopf (schließlich können die Franzosen kein „H“ sprechen). Sandra Hüller als doppelte Mimi, stereotyp oder emanzipiert, muß sich beim Thema Sodomie dann auch noch als überlebensgroßes Schaf kostümieren (Woody Allens Schaf war gelungener). Am Ende soll gar ein politischer Gegenwartsbezug hergestellt werden (der bei Artauds Auslassungen über Amerika schon anklang). Mimis Zimmer auf Rädern wird nämlich herumgedreht, so daß es von hinten sichtbar wird: Dort ist es schwarz-rot-gold lackiert, eine riesige Bundesflagge.

Wen all das nicht abschreckt, der kann sich vielleicht über die Dialoge amüsieren. In die freilich Mimi eingreift, was fast immer peinlich wirkt. Puccinis Oper hatte ihre Uraufführung im Geburtsjahr Bretons, und ihre seither ungebrochene Popularität liefert ja ein brauchbares Klischee. Die vielversprechende Idee, das weibliche Prinzip in Form einer tragisch verklärten Operngestalt auch leibhaftig auf die Bühne zu bringen, ist in der Ausführung aber eher mißlungen. Es scheint, daß hier zu viel konstruiert wurde, zu wenig der Logik eines einheitlichen Stückes folgt. Für Unterwältigte hält nach anderthalb Stunden die abendlichen Gottschedstraße noch Amüsements bereit …

(Ian Sober)

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