„Du läßt die Liebe nicht zu.“

Lesung mit Friederike Mayröcker anläßlich des Georg-Büchner-Preises 2001

Etwa zweihundert Leute, darunter eine Vielzahl ambitionierter städtischer Literaten, warten um 20 Uhr im Oberlichtsaal der Leipziger Stadtbibliothek auf Friederike Mayröcker. Bald heißt es, sie verspäte sich wegen gesundheitlicher Probleme.

Ein MDR-Rezensent nutzt die Zeit für Interviews. Zielstrebig kommt er gerade auf uns zu und fragt mich, warum ich zu Friederike Mayröcker gekommen sei. Auf meine sauber ins Mikrophon gesprochene Antwort, ich schriebe eine Rezension für den Leipzig-Almanach, zu finden unter: www. … entzieht er mir flink das Sprachrohr zur Öffentlichkeit und äußert: „Ah, nur der Arbeit halber. Einer von den Konkurrenten, das nützt mir nichts.“

Dafür erscheint um 20.15 Uhr Frau Mayröcker in Begleitung einiger Herren. Die 1924 in Wien geborene Autorin in schwarzer Kleidung und mit schwarzem gesichtverhüllendem Haar wirkt zerbrechlich und schwach. In den Begrüßungsworten wird ihr dafür gedankt, daß sie nach der Verleihung des Büchnerpreises „gemäß der Tradition“ in Leipzig lese.

Prof. Dr. Christian Meier, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, verliest den Urkundentext vom 27. Oktober 2001, in dem „Sprachströme“, „Worterfindungen“ und „Assoziationsereignisse“ gewürdigt werden, die „das Reservoir der unerschrockenen Empfindungen öffnen“. Mit einleitenden Worten zu Leben und Werk der „Grande Dame der deutschsprachigen Literatur“ (seit 1975 bei Suhrkamp) schließt sich Thorsten Ahrend an, Lektor im Suhrkamp Verlag. Mayröckers Prosa und Lyrik hätten den Anspruch, mit „euphorischem Auge“ genau wahrzunehmen und Erlebtes (ideologisch) ungefiltert in die Literatur eingehen zu lassen. Für die Dichterin, die „zwei Jahre noch eine Zeitgenossin Rilkes war“, seien Schreiben und Leben eins, herrsche Schreibzwang, und damit werde Schreiben etwas existentiell Körperliches. Schließlich bittet er um Verständnis dafür, daß heute wegen ernster gesundheitlicher Probleme nur eine kurze Lyriklesung ohne anschließende Diskussion stattfinde.

Frau Mayröcker steht auf, sagt: „Komme sofort, zwei Minuten“ und verläßt mit Herrn Ahrend den Saal. Wir sitzen und warten.

Unter Applaus kehrt sie zurück. Ihr blasses Gesicht am Lesetisch wird ausgeleuchtet. Zuerst liest sie ein Stück aus ihrer gerade erschienenen fünfbändigen Auswahl Gesammelte Prosa. Die Auszüge sind lyrisch, und es gelingt der ruhigen, manchmal versiegenden Stimme, Stimmung zu erzeugen. „Das Herz fäustelt gegen die Brustwand/, es gibt/ kein Maßhalten mit den eigenen Kräften, der eigenen Zeit/, dann wieder werden /Vernunft und Gewissen reaktiviert“. Im Assoziationsfluß findet sie beeindruckende Bilder und schafft gleichzeitig eine Gegenwart, die spannend ist. So wird im Text ein lang erwarteter Brief geöffnet. Pause. Sie trinkt etwas, schürt Neugierde, dann, langsam, wie gebrochen: „Du läßt die Liebe nicht zu. Du läßt die Phantasie meiner Liebe nicht zu.“

Kein Wort ist sicher vor ihr, nichts ist ihr sicher; das verdeutlichen auch ihre Gedichte. Es dominieren Fragen, Neugierde, Staunen und die „Sehnsucht nach meinen noch nicht geschriebenen Werken“. Wenn zwischen Bildern und Metaphern wie „als ob ein Wind genistet hätte in diesem Gras“ und „Ohne dich flockt die Liebe aus“ immer wieder Wendungen wie „und so weiter“ und „oder“ auftauchen, dann spricht da authentisch und jung Friederike Mayröcker.


29. November 2001, Leipziger Stadtbibliothek

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