Jens-Paul Wollenberg und das Valeri Funkner Trio: (Grit Kalies)

?Ein Oberflächenberater besteigt die Spirale?

Vortrag, Gesang: Jens-Paul Wollenberg
Bajan: Valeri Funkner
Piano, Gesang: Anja Schmidt
E-Baß, Tuba: Robert Katschinka


Gar nicht oberflächlich

Die Bühne ist ganz in Schwarz gehalten. Im Hintergrund stehen die Musiker, am seitlichen Rednerpult verkündet Jens-Paul Wollenberg: ?Wir brauchen keine Inhalte mehr. Schon seit gestern gelten andere Aspekte.? Denn der Schmetterling habe wieder Einzug in die Literatur gehalten, und überhaupt gebe es genug Verpackungen und seichte Klischees, um keine Inhalte mehr vermitteln zu können. So endlich trete Ruhe ein im täglichen Chaos, das Wetter werde besser.

Die Nato ist ausverkauft, zur Premiere des Programms mit dem ungewöhnlichen Titel sind etwa hundert Leute erschienen. Schon nach kurzer Zeit wird klar, was der Inhalt des als ?rhapsodisch ? schizophren? angekündigten Vortrages ist: distanzierte Zeitkritik eines begabten Chansonsängers und Satirikers.
Da fügt sich eins zum andern, nichts erscheint ?rhapsodisch?, als da heißt: bruchstückhaft, unzusammenhängend. Ob er nun fordert ?Demaskiert euch, Anorgane!? oder ?Weiter, weiter, weiter, weiter. Suche, Seele, suche… fluche, Seele, fluche. Weiter, weiter, unermüdlich…?, ob er pathetisch hinter dem Pult deklamiert oder in Sandalen, weißen Strümpfen und mit der nach hinten gekehrten Baskenmütze Chansons und sich selbst auf der Bühnenmitte darbietet, immer wieder überraschen Bilderreichtum, böser Witz und trauriger Irrsinn in schlüssiger Zuordnung zu den Metaphern: ?Oberfläche? und ?Spirale?.

?Ach ja, jetzt wird mir auf einmal klar, was ich euch empfehlen wollte. Einen Oberflächenberater braucht ihr. Einen, der alles Tiefe überklebt mit Schaumstoff, alles, was als sinnvoll oder sinnlich zu bezeichnen ist…? Da aber Oberflächenberater kein üblicher Beruf wie Koch sei, erzählt er wortspielreich und bissig seine Geschichten, schlägt vor, sich eine Hinrichtung anzusehen oder empfiehlt allen ?Zuhörer-innen und außen? ?doch lieber ein Lied ohne Tiefsinn und Moral?.

Wer sich in Lachkrämpfen windet, fällt nicht auf. Denn so ergeht es den meisten bei dem Lied: ?Ich bin ein schreckliches Gedicht, denn der mich schrieb, der liebt mich nicht.? Wollenbergs Unernst hat Ernst und unterschwellige Traurigkeit: ?Ich will hoffen, daß wir dieses Gedicht nicht noch mal schreiben müssen – beziehungsweise lesen – beziehungsweise rezitieren.?

Zwischen running gags (nacheinander werden die Zuschauer herausgeworfen: ?Raus, die ganze dritte Reihe raus!?) und Schimpfkanonaden gegen Liedermacher mit Diplom bewegt sich die fast defätistisch-verzweifelte, von Ohrwurm-Chansons (?Die liebe alte, ach, so treue Mitte befindet sich jetzt auf dem rechten Weg.? / ?Ich ziehe nicht an fremder Zigarette …, ich hab kein Glück, verliere jede Wette.? / ?Wohin soll denn die Reise gehen? Dahin, dahin, dahin.?) begleitete Satire auf sinnlichem Grund. Und der besteht nicht unerheblich aus Poesie. Da werden wir als ?vergorene Illusions- und Narbenwächter? bezeichnet, da fragt er: ?Wieviel Ebben sah ich sterben?? oder ?…ist irgendwann ein Felsen gar, wo irgendwann mein Körper war.? Es scheint, hier hat sich einer mit Abstand zu sich und Gesellschaft die Zeit zum Denken genommen.

Die Musiker erzeugen ungewöhnliche Tonteppiche, der Interpret verausgabt sich. Schließlich behauptet er: ?Unsere Blamage ist Konzept.?, läßt uns Platz nehmen ?auf dem hohen Schemel des Absurdentums? und spricht mit dem Nichts: ?Liebes Nichts. Schön, daß es dich nicht gibt … Drum möchte ich meinen Vortrag weiterhalten in der Hoffnung, daß mir keiner zuhört; als Oberflächenberater … das Vakuum fördern im luftleeren Raum, Atemnot verbreiten…? Daß er dabei theatralisch erstickt, hindert ihn nicht, dem Nichts ein Lied zu widmen. Den Wunsch des Publikums nach mehr (als Nichts) erfüllt er in der ersten Zugabe mit einem ?Liebeslied an unsere Brüder und Schwestern?: ?Ein böses Volk, ein böses Volk ? die Ratten.?

(Grit Kalies)

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