Gewandhausorchester, Dirigent: Herbert Blomstedt
Barbara Schlick, Sopran
Bernarda Fink, Alt
Nico an der Meel, Tenor
István Kovács, Baß
Christian Stötzner, Orgel
Michaela Hasselt, Cembalo
Georg Friedrich Händel, The Messiah (Der Messias)
Oratorium in drei Teilen nach Bibeltexten HWV 56 (Aufführung in englischer Sprache)
Edle Unterhaltung
Als ein englischer Aristokrat Händel zur Aufführung des „Messias“ beglückwünschte, er habe „edle Unterhaltung“ geboten, erwiderte der so Gepriesene, es täte ihm leid, wenn er die Menschen nur unterhalten hätte; denn er wollte sie bessern.
Seinen persönlichen Bildungsauftrag hat Händel an diesem Abend im Leipziger Gewandhaus leider verfehlt, was aber weder an ihm selbst, noch an Orchester, Chor oder den beteiligten Solisten gelegen hat. Denn offensichtlich sind die Resultate der jüngsten internationalen Schulstudie (PISA) für das deutsche Bildungssystem noch ernüchternder als bislang angenommen. Die mangelnde Lesekompetenz beschränkt sich demnach nicht nur auf Fahrpläne der Deutschen Bundesbahn, sondern auch auf die Anfangszeiten von Konzerten, die groß und deutlich auf Eintrittskarten vermerkt sind. So ging die Zahl derer, die noch weit nach Beginn Einlass begehrten und sich in Trauben auf der Saalempore versammelten, deutlich über das Maß des Erträglichen hinaus. Dass die Musiker sich von dieser Unruhe nicht anstecken ließen, war die eigentliche Überraschung des Abends.
Ein weiteres Störmoment in diesem Konzert gehört bereits zum festen Repertoire des Gewandhauses. Oder war jenes exzessive Husten, das durch den Saal hallte, etwa nur eine neue Form der Beifallsbekundung? Grippeviren gehören zu Herbst und Winter, das ist ganz unvermeidlich. Es drängt sich aber mitunter die Vermutung auf, dass einige mit einem ganzjährig grassierenden Katarrh geschlagen sind und das Auditorium des Großen Saals mit einem Sanatorium verwechseln! Zwei Lösungsvorschläge: Dirigenten sollten öfter den Mut besitzen, ein Konzert ganz abzubrechen oder zu unterbrechen, wenn der Lärmpegel ins Unerträgliche steigt (Kurt Masur tat es vor einigen Jahren in New York). Oder die Gastgeber verteilen – wie ebenfalls weiland Masur im Gewandhaus – Hustenbonbons (sofern sie nicht in knisterndes Papier eingewickelt sind).
Zur Musik: Händel komponierte seinen „Messias“ in der unvorstellbar kurzen Zeit von drei Wochen zwischen August und September 1741. Der bereits 56-jährige Komponist bekannte damals: „Ich glaubte, ich sähe alle Himmel offen vor mir und Gott selbst.“ In die Musik ist eine Menge dieses Enthusiasmus‘ geflossen. Bei der Vorstellung seines Werkes erging es Händel jedoch ähnlich wie Brahms mit seinem Requiem 150 Jahre später. Von der Kirche wurde es als zu unkonventionell und unreligiös abgelehnt, weil es „nur“ Reflexionen auf das Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu zur Sprache bringt.
Das Orchester erscheint in kleiner Besetzung. Blomstedt verzichtet auf das Podest und rückt mit dem Dirigentenpult ganz nah an seine Musiker heran. Gleichwohl der „Messias“ vor allem von den Solostimmen und den Chören getragen wird, gibt es auch gewichtige instrumentale Abschnitte. Bereits in der Grave-Einleitung tänzelt Blomstedt vor und zurück, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, als möchte er seine Musiker um ein gedeihliches Zusammenspiel an diesem Abend bitten.
Getragen beginnt der Tenor mit dem lang gezogenen „Comfort ye“, das in das optimistische „Ev’ry valley shall be exalted“ übergeht. Nach und nach stellen sich die anderen Solisten vor. István Kovács meldet sich mit seinem Baß zu Wort, dem weichen Klang der Violinen seinen rauen Gesang entgegensetzend. Galant lassen Violine und Cembalo Bernarda Finks Alt den Vortritt. Die Sopranistin Barbara Schlick muss sich am längsten gedulden und vertreibt sich die Zeit, in dem sie leise beim Chor mit einstimmt. Und der Gewandhaus-Kammerchor ist von Beginn an mit einer Leichtigkeit dabei, die begeistert. Klar und deutlich erklingen die Choräle.
Auch das Publikum lässt sich von dieser Darbietung zu Höchstleistungen, gepaart mit ausdrucksstarker Gestik, verführen. Ruckartig schnellt da der Kopf nach vorn, wird simultan zu Händels Oratorienbuch gegriffen, vollführen verschränkte Daumen artistische Meisterleistungen beim Versuch, Blomstedts Dirigat nachzuahmen. Dann naht das „Hallelujah“. Blomstedt forciert es stark im Tempo und umsteuert auf diese Weise souverän die Untiefen eines der am meisten interpretierten, kopierten und verfremdeten Stücke der Musikgeschichte.
Als sich nach fast drei Stunden eine leichte Erschöpfung breit zu machen droht, erhebt sich der Abschlusschoral langsam und kraftvoll und entlässt den Zuhörer mit der Gewissheit, wenn nicht gebessert, dann doch auf jeden Fall edel unterhalten worden zu sein.
(Steffen Lehmann)
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