„Die Kultur einer Stadt ist etwas Existenzielles“

Interview mit Georg Girardet anlässlich seiner diesjährigen Wiederwahl als Beigeordneter für Kultur der Stadt Leipzig

Sie sind nach Ihrer zehnjährigen Amtszeit als Leipziger Beigeordneter für Kultur auf weitere sieben Jahre berufen worden. War die vorausgehende Wahl spannend?

Ja, sehr. Eine Fraktion hat sich über viele Monate bemüht, einen mehrheitsfähigen Gegenkandidaten zu präsentieren, was ihr aber nicht gelang. Schließlich habe ich dann von allen Kandidaten, die zur Wiederwahl standen, die meisten Stimmen erhalten. Mit diesem Ergebnis bin ich sehr zufrieden.

Was hätten Sie für Alternativen gewählt?

Diese Frage hatte mich nicht ernsthaft beschäftigt. Ich bin bereits zehn Jahre lang für Leipzig tätig. Für die Belange dieser Stadt setze ich mich mit aller Kraft ein. Gut, ich hatte in jüngster Zeit mehrere Angebote, darunter eines aus Köln, dann noch eines aus Bonn. Aber ich habe mir immer gesagt: Ich habe hier in Leipzig so viele Dinge in Gang gesetzt, ich würde diese gerne noch zu Ende führen, würde gerne die Ernte einfahren.

Zunächst war es wohl relativ mühsam, im Osten etwas aufzubauen?

Das ist richtig, was den Aufbau einer funktionsfähigen Verwaltung angeht. Es ist nicht richtig, soweit es die Gelder anbelangt. Die erste Zeit war in dieser Hinsicht sogar ziemlich leicht, direkt nach der Wende gab es noch relativ viel Geld. Es gab die Übergangsfinanzierung des Bundes, die Stiftungen, alle schütteten Gelder aus. Das hat sich dann allerdings schnell verflüchtigt. Die Widerstände wurden von Tag zu Tag größer, die Gelder wurden immer knapper, und die Verteilungskämpfe nahmen zu.

Die Off-Szene spielte gegen die etablierte Kultur?

Die freie Szene spielte gegen die etablierte Hochkultur, ja. Aber auch der Straßenbau spielte gegen das Opernhaus. Es gab viele, die die Prioritäten anders setzten. Aber wissen Sie, ich bin da immer der Meinung gewesen, dass es temporäre Ärgernisse gibt, deren Beseitigung man zugunsten von existentiellen Fragen zurückstellen kann. Für mich sind Schlaglöcher solche temporären Ärgernisse, die Kultur einer Stadt ist aber etwas Existenzielles, damit bekommt die Stadt eine ganz andere Qualität.

Sie meinen die sogenannten Standort-Faktoren?

Ja, die auch. Aber nicht nur. Das Image einer Stadt, ihr Bild in den Augen der Außenstehenden kommt erst an zweiter Stelle. Zunächst aber geht es doch um die Bedeutung der Kultur für ein Gemeinwesen an sich. Es ist wichtig, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Stadt identifizieren können, es ist die Sprache der Kultur, die dies bewirken kann. Erst dann kommt die Kultur als Standortfaktor, der wiederum die Wirtschaft ankurbelt. Danach geht es um den Nutzen der Kultur für die Stadtentwicklung. Alle Städte haben heute mit dem Problem zu kämpfen, dass die Steuereinnahmen drastisch fallen und die Sozialausgaben weiterhin steigen: Die Schere von Einnahmen und Ausgaben geht dramatisch auseinander, und zwar fast überall. Im Zuge dieser Entwicklung ist es oft die Kultur einer Stadt, die auf der Strecke zu bleiben droht. In Leipzig ist das glücklicherweise etwas anderes: Ich habe ? rein zahlenmäßig betrachtet ? einen steigenden Kultur-Etat. Aber das nützt nicht viel, denn die Kosten steigen leider überproportional. Ein großes Problem sind in unserem Bereich die tarifbedingt steigenden Personalkosten, die in Kultureinrichtungen oft 70 Prozent und mehr der Kosten ausmachen. Auch wenn die Zahlen absolut gesehen steigen ? relativ betrachtet steigen die Kosten deutlich mehr als die Zuwächse.

Wenden wir uns den schönen Dingen zu, denen, die Sie ändern können. Welche Ideen und Projekte haben Sie für Leipzig ?

Es gibt neben den konkreten Ereignissen und Vorhaben längerfristige Visionen, die ich verwirklichen will. Darüber hinaus gibt es Visionen, die wohl nie wirklich realisiert werden können.

Etwas konkreter, bitte.

Uns geht es um langfristige Prozesse. Nehmen wir das Thema Jugend. Die hat ihre ganz eigene Kultur entwickelt, die von der traditionellen deutlich abweicht. Diese beiden Kulturen müssen wir in absehbarer Zeit wieder stärker zusammenführen. Das ist eine komplizierte, langfristige Aufgabe: Auf der einen Seite müssen wir weiterhin viel tun für Einrichtungen wie Musikschulen, Volkshochschulen und für die Freie Szene. Auf der anderen Seite müssen sich die großen Häuser, die die sogenannte Hochkultur pflegen, auch auf diese Entwicklung einstellen. Wolfgang Engel hat das im Leipziger Schauspiel sehr erfolgreich getan: Auch bei einer Hamlet-Premiere gibt es dort einen Anteil von gut einem Drittel junger Leute. Dem Schauspiel ist es gelungen, viele Schüler und Studenten an das Haus zu binden. Das halte ich für einen großartigen Erfolg!

Wie stark kann sich ein Kulturdezernent machen, wenn es um eine solche Profilierung des Hauses geht?

Die großen Häuser, die drei Viertel meines Budgets benötigen, haben diese Öffnung in Richtung Jugend alle akzeptiert. Früher, unter den vorhergehenden Intendanten, waren die Chance dafür geringer. Aber nehmen Sie den jetzigen Opernintendanten Henri Maier. Seine Ideen gehen ganz stark in diese Richtung, vor allem auch aus diesen Gründen haben wir ihn nach Leipzig geholt. Beispielsweise hat die Oper früher bei Ermäßigungen immer nur an Auszubildende, Studenten und Schüler gedacht. Maier sagt nun: Es geht uns bei den jungen Leuten nicht nur um bestimmte Personengruppen, sondern es geht uns um junge Leute ganz allgemein. Wie bringen wir sie in unser Haus? So hat er einen Pass kreiert, der jungen Menschen bis zum Alter von 27 Jahren einen stark ermäßigten Eintritt gewährt. Egal, welches Einkommen man hat, man bekommt – bis 27 – stark vergünstigte Eintrittskarten.

Halten Sie es für vielversprechend, der Hochkultur ihre Hemmschwellen auf diese Weise zu nehmen?

Ja. Der Gedanke ist, dass junge Menschen oft gar nicht wissen, was die Oper oder andere Kultureinrichtungen bieten. Erst wenn man die Oper von innen gesehen hat, kann man auf den Geschmack kommen. Vielen Jugendlichen ist die Oper ihr Geld nicht wert. Aber wenn sie mit dem gleichen Eintritt, den eine gute Kinokarte kostet, auch in eine lebendige Oper gehen können, dann probieren sie das viel eher mal aus. Im Grunde ist das eine ganz einfache Idee, die aber sofort jeden überzeugt. Es geht um die Altersgrenze und eben nicht um den Status. Das sind Schritte, die den richtigen Weg weisen ? viele weitere müssen folgen.

Erlauben Sie mir einen Exkurs: Sie kamen nach der politischen Wende doch aus Westberlin? War es für Sie persönlich ein Problem, sich hier zurecht zu finden?

Die neuen Länder lagen mir insofern am Herzen, als ich acht Jahre in der DDR gelebt habe. Ich war in Ost-Berlin quasi im Diplomatischen Dienst an der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR beschäftigt. Das war so eine Art Botschaft in der DDR; entsprechend gab es auch eine Vertretung der DDR in Bonn. Bei dieser Ständigen Vertretung der Bundesrepublik der DDR habe ich acht Jahre lang gearbeitet ? mit Diplomatenstatus und mit Sitz in Ost-Berlin. Von diesen acht Jahren war ich fünf Jahre lang Kulturreferent. Ich habe mich also professionell mit der Kulturpolitik in der damaligen DDR beschäftigt. Wir wurden angehalten, viel ins Land zu fahren, um Leute kennen zu lernen und die Szene zu erkunden. Und das Reisen war leicht, weil die Interhotels in den allermeisten Fällen ein Diplomatenkontingent hatten. So konnten wir uns ein intensives Bild von allen Gegenden machen.

So kamen Sie auch in die Orte abseits der Hochkultur?

Wir waren ständig unterwegs! Ich habe das Gefühl, dass ich das Land und die Menschen sehr gut kennen gelernt habe.

Und wie war es nach der Wende in Leipzig?

Nach der Wende hatte zunächst ein Leipziger Schriftsteller die Kultur unter seiner Ägide. Er wurde aber wieder abgewählt. Und der Stadtrat hatte festgelegt, dass für die Kulturbelange niemand aus dem Westen verantwortlich tätig sein sollte. Dann haben sie gesucht, die Stelle wurde in der ZEIT ausgeschrieben, und ich bin von Leipziger Freunden ermuntert worden, mich zu bewerben. Danach ging alles rasend schnell: binnen weniger Wochen bin ich unter ca. 100 anderen Bewerbern ausgewählt worden. Es hat wohl die Tatsache überzeugt, dass ich acht Jahre in der DDR gelebt, die Kulturpolitik der DDR kennengelernt hatte und gleichzeitig in der westdeutschen Kulturverwaltung auf Bundes- und Landesebene tätig war und dort viele Erfahrungen hatte sammeln können.

Wie lief es ab dem 1. Dezember 1991, Ihrem Amtsantritt?

Es folgte eine wahnsinnig harte Zeit. Ich musste zunächst die Stadt en détail kennen lernen. Ich war zuvor vielleicht zwanzig Mal in Leipzig gewesen, aber nun musste ich alle Verästelungen einer Kommune wahrnehmen, die man bei bloßen Besuchen natürlich nicht so leicht erkennen kann. Dazu kam, dass es kaum funktionsfähige Verwaltungsstrukturen gab. Zu DDR-Zeiten ressortierte die Kultur vor allem beim Rat des Bezirks, zum Teil auch unmittelbar bei der Regierung in Berlin. Nach dem neuen Recht war aber nun die Stadt in vollem Umfang für die Kultur verantwortlich. Dafür musste erst einmal eine neue Verwaltung aufgebaut werden. Die Mitarbeiter der Stadtverwaltung mussten Schulungen machen, zahlreiche gingen, weil sie untragbar waren, neue, ungeschulte kamen hinzu. Und dazu kam eine völlig unzureichende technische Infrastruktur – selbst das Telefonieren war nur schwer möglich. Aber das ist – zum Glück – mittlerweile ferne Vergangenheit.

Sie fanden jedoch zügig fähige Mitarbeiter?

Ja, ich habe in Leipzig viele Menschen gefunden, die mit Engagement und Kompetenz bei der Sache sind. Die Zusammenarbeit mit ihnen macht viel Freude.Was ist Ihnen in den letzten Jahren besonders gelungen?

Ich denke, das sind vor allem die Personalentscheidungen. Im Laufe der Jahre ist die gesamte Leitungsebene im Kulturbereich erneuert worden, die Kultureinrichtungen haben neue und gute Chefs ? männliche und weibliche. Es ist wichtig, dass die Leute nicht nur fachlich gut sind, sondern dass sie auch ausgesprochen kommunikativ sind, dass sie eine soziale Kompetenz besitzen.

Wie würden Sie Ihren Führungsstil charakterisieren?

Vom Typ her bin ich liberal. Normalerweise gehe ich davon aus, dass es gerade in meinem Bereich immer ein Spektrum gibt, innerhalb dessen sich die richtigen Lösungen bewegen. Es gibt fast nie den einzig richtigen Weg in der Kultur, es gilt mehr, die verschiedenen Sichtweisen zusammen zu bringen. Ich habe bei vielen Problemen moderiert und manche Menschen bezeichnen mich als konsens-süchtig. Ich kann daran nichts Negatives finden, denn gerade der Konsens ermöglicht in der Kultur vieles.

Worauf sind Sie stolz, welche Projekte der vergangenen Jahre erscheinen Ihnen heute im Rückblick als wichtig?

Ich habe schon erwähnt, wie wichtig es war, die richtigen Persönlichkeiten für die Leitungspositionen in den kulturellen Einrichtungen unserer Stadt zu finden. Diese Arbeit ist nicht zu unterschätzen. Ein wichtiges Projekt sind darüber hinaus die Museumsprojekte dieser Stadt. Insgesamt stecken wir 200 Millionen Mark in die Leipziger Museen: 120 Millionen fließen in den Neubau des Bildermuseums, 70 bis 80 Millionen gehen in die Sanierung des Grassi-Museums. Noch einmal 12 Millionen wenden wir für einen Ergänzungsbau für das Stadtgeschichtliche Museum im Alten Rathaus auf. Natürlich zahlen wir das als Stadt nicht allein; Land und Bund helfen uns ganz wesentlich.

Ein anderes ganz wichtiges Projekt ist das jährliche Bachfest der Stadt Leipzig, das wir seit 1999 veranstalten. Es stieß übrigens zunächst nicht auf allzu große Zustimmung. Unter anderem befürchtete man, es gäbe regional und überregional schon zu viele Bachfeste. Ich bin mir aber nach der sehr positiven Bilanz, die das Bachfest in den letzten drei Jahren ziehen konnte, ganz sicher, dass diese Entscheidung völlig richtig war. Bach – bitte verzeihen Sie mir diese profane Sprache – ist neben der Messe der stärkste Imagefaktor dieser Stadt. Hier hat er 27 Jahre gelebt. Hier befinden sich seine wichtigsten Wirkungsstätten – die Thomaskirche und die Nikolaikirche; viele Menschen habe ich mit Tränen in den Augen an seinem Grab in der Thomaskirche stehen sehen. Und natürlich ist der Thomanerchor zu nennen. Der heutige Kantor – Prof. Georg Christoph Biller – ist der 16. Kantor nach Bach. Die meisten seiner wichtigsten, bekanntesten und erfolgreichsten Werke entstanden in Leipzig und wurden hier uraufgeführt. Es gibt keinen anderen Ort, der uns Bach streitig machen könnte. Das belegt unser Erfolg. Nach so kurzer Zeit schon können wir ohne schlechtes Gewissen sagen, dass wir das erfolgreichste Bachfest veranstalten. Anders wäre das sicher mit Mendelssohn, den Leipzig sich geografisch mit Berlin teilen müsste; oder Robert Schumann, der auch in Zwickau und Düsseldorf wirkte; oder Richard Wagner, der in früher Jugend aus Leipzig wegzog und natürlich Bayreuth als Pilgerstätte hat.

Blenden wir über, sprechen wir über zukünftige Vorhaben. Wie sehen Sie die Kultursituation der Stadt Leipzig in etwa fünf Jahren?

Ich möchte gerne, dass die Kultur im Leben der Stadt dann eine noch stärkere Rolle spielt als heute. Mein Wunsch wäre, dass die große Kulturvielfalt für jedermann im Alltag präsent ist. Und dass wir auch von außen noch stärker als Kulturstadt wahrgenommen werden. Da ist noch viel zu tun. Aber ich denke die Stadt hat vor dem Hintergrund ihrer Authentizität gute Chancen, sich in diese Richtung zu entwickeln. Hier ist so viel an innerer Substanz da, dass wir keine künstlich inszenierten Events veranstalten müssen, um Leben in die Stadt zu bekommen. Wir müssen sehen, dass die vorhandene Substanz zu höchstmöglicher Wirkung gebracht wird. Sicher können wir auch von unserer Seite noch einiges dazu beitragen und uns verbessern. Den Mendelssohn-Festtagen würde ich noch eine größere Ausstrahlung wünschen, die Lortzing-Ehrung hätte angemessener ausfallen können. Mir geht es darum, dass das vorhandene Potential zu Leben erweckt wird. Das heißt auch, dass die großen Häuser noch stärker kooperieren und in der Öffentlichkeit gemeinsam präsent sind. Beim Marketing müssen wir generell noch kräftig zulegen.

Zu meinen Zukunftsprojekten zählt natürlich auch das Völkerschlachtdenkmal. Wir werden es sanieren und restaurieren, wir werden den Vorplatz neu gestalten und Aufzüge einbauen und wir wollen die touristischen Angebote für die 300.000 Besucher, die das Denkmal pro Jahr aufsuchen, spürbar verbessern. Eine enorme Finanzspritze des Landes, die wir vor kurzem bekommen haben, hilft uns daher sehr.

Wollen Sie dem Monument eine neue, positivere Ausrichtung geben?

Auch über die inhaltliche Ausrichtung müssen wir diskutieren. Das Denkmal wurde einmal als Memorial für die Gefallenen der Völkerschlacht aus dem Jahre 1813 erstellt. Daneben ist es aber auch eine bauliche Widerspiegelung der politischen Haltung des Jahres 1913 und steht damit für eine Zeit mit einem ausgeprägten nationalistischen Charakter. Heute müssen wir neue, tragfähige Leitideen im Umgang mit einem solchen nationalen Erinnerungszeichen entwickeln. Ich denke da an den europäischen Gedanken, an Werte wie Toleranz, Friedfertigkeit, Demokratie und Verständigung. Wir wollen das Denkmal weiterentwickeln zu einer Stätte der internationalen Kommunikation, zu einem Friedens- und Freiheitsmal, das europäische Identität stiftet.

Erlauben Sie mir am Schluß noch eine Frage zu Ihrer Person: Welche Ihrer Eigenschaften hilft Ihnen, dieses wichtige Amt auszufüllen?

Zunächst einmal Lebenserfahrung, dann natürlich Liberalität. Ja, Menschenkenntnis und ein großes Maß an Toleranz sind die wichtigsten Eigenschaften für diesen Posten.

Ich wünsche Ihnen viel Kraft für die nächsten Jahre und bedanke mich für das Gespräch.

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