Was wir wirklich wissen

Reiner Tetzners Vortrag widmet sich den Vorstellungen vom Sterben in den indo-europäischen Mythen

Ob das „Zeitalter des Mythos begonnen“ hat, wie der Vortragende einführt, oder ob sich Mythen nicht wie ein roter Faden durch die vom Menschen stets unzulänglich wahrgenommene Zeitgeschichte ziehen, sei dahingestellt. Thema des Abends sind die unterschiedlichen Auffassungen der germanischen, griechischen, indischen, kurz: indogermanischen Mythologien zu Tod – Unsterblichkeit. Anhand eines Strukturschemas zu Göttersystemen diskutiert Reiner Tetzner Berührungspunkte zwischen den indogermanischen Urglauben, die im Unterschied zu den historisch jüngeren monotheistischen Weltreligionen eine Vielzahl von Göttern zulassen (z.B. indische Götter: Varuna, Mitra, Usas; griechische Götter: Athene, Mars, Zeus; germanische Götter: Odin, Thor, Freyja).

Aus dem Polytheismus ergäben sich weitreichende Konsequenzen für das Leben und Überleben der indogermanischen Götter. Sie entstünden „in der Welt und aus dem Weltprozeß“, seien selbst unvollkommen und damit menschennah, während in Religionen wie Christentum und Islam der eine absolute, männliche Gott vor und außerhalb des Kosmos existiere und in einem Willensakt die Welt aus dem Nichts schaffe. Zwar seien auch die griechischen Götter unsterblich, hätten aber einen Anfang (die Urgöttin Gaia entsteht aus dem Chaos, schafft dann den Urgott Uranos). In den germanischen Mythen nun seien die Götter sogar sterblich und beiden Fügungen – Anfang und Ende – unterworfen. Aussagen, die der Mythologe mit plastischen Beispielen aus seinem Buch Germanische Göttersagen illustriert.

Was nun den Menschen betrifft, so beschreibt Tetzner vielfältigste Mythen zur Sterblich- oder Unsterblichkeit. Da werden durch Alter oder Krankheit Gestorbene im unterirdischen Totenreich Hel verwahrt, einem kühlen ungemütlichen, aber nicht qualvollen Aufenthaltsort, im Kampf gefallene Krieger dagegen kommen ins Kriegerparadies Wallhall (germanische Sagen), Tote werden als lebendige Leichname verstanden und treten mit den Lebendigen in Verbindung (Eddagedichte, Sagas), Schatten leben als Bilder entschlafener Menschen im trostlosen Hades, Auserwählte gelangen auf die Insel der Seligen bzw. ins Elysium (griechische Sagen), oder die Menschen und Tiere sind nach indischem Mythos gezwungen, wiedergeboren zu werden, und können nur erlöst werden, indem sie durch asketische Versenkung und Meditation die Einheit von Atman (Einzelseele) und Brahman (Weltseele) erkennen und leben.
Am Ende seiner Ausführungen und vor einer regen Diskussion zu Motiven wie Weltenbrand, Sintflut, Reinkarnation oder etwa „Nachtoderfahrungen“, fragt er: „Was wissen wir wirklich?“

Weil Antworten praktisch sind, sei diese zitiert: „Der Mensch lebt nur ein Leben… Man kann nie wissen, was man wollen soll, weil man nur ein Leben hat, das man weder mit früheren Leben vergleichen noch in späteren korrigieren kann.“ (Milan Kundera)

Tod und Unsterblichkeit in den indogermanischen Mythen
Vortrag von Reiner Tetzner, Arbeitskreis für vergleichende Mythologie
13. Dezember 2001, Haus des Buches

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