Tocotronic

Tocotronic:
Pure Vernunft darf niemals siegen
Lado
CD, VÖ: 18. Januar 2005

Bild: Inpromo


Mystik für Vielzuspätgeborene
Tocotronic macht ordentlich Fin-de-si?cle-Stimmung fürs 21. Jahrhundert

Man muss sich Tocotronic als glückliche Band vorstellen. Fernsehinterviews bestreiten die Musiker fortwährend lächelnd, geben mit freundlichen Worten Antworten auf die Fragen der Moderatoren, denen man zumeist ansieht, dass sie sich, je länger das Gespräch dauert, immer schlechter vorbereitet fühlen und immer weniger verstehen. Tocotronic in einem Satz: 1995 als Pioniere der Hamburger Schule und der dazugehörigen Jugendbewegung gestartet, dann ein paar Experimente inklusive Elektronik-Variations-Album gemacht, mit dem letzten, dem „weißen“ Album viele Fans nachhaltig erschüttert („Wo ist der Punk geblieben?“), einige neu gewonnen, und jetzt, im Januar 2005, die neue Platte vorgelegt (eingestiegen auf Platz 2 der Charts). Pure Vernunft darf niemals siegen.

Schön, wenn einem bei der Exegese ein wenig auf die Sprünge geholfen wird, denn: Mit den Jahren kommt offensichtlich der Wunsch nach Mystik, Romantik und Symbolismus auf bei den vier Herren von Tocotronic (die Band hat neuerdings den gebürtigen Amerikaner Rick Mc Phail mit an Bord, der auch vorher schon auf Konzerten als Keyboarder in Erscheinung trat). Die Interpretationshilfe liefert die zweite Single-Auskopplung aus Pure Vernunft darf niemals siegen: Gegen den Strich heißt sie, und Gegen den Strich heißt auch ein 1884 von Joris-Karl Huysmans verfasster Roman, dem folgendes Zitat vorangestellt ist: „Ich muss mich erfreuen außerhalb der Zeit …, wenn der Welt vor meiner Freude auch graut und ihre Gewöhnlichkeit nicht versteht, was ich sagen will.“ Das hätte Tocotronic auch nicht schöner sagen können (tatsächlich war es aber Ruisbroek der Wunderbare, der als größter flämischer Mystiker gilt). Gegen den Strich, als „Bibel der Dekadenz“ bekannt, erzählt die Geschichte eines vor dem Naturalismus seiner Zeit Flüchtenden, der in seinem Landhaus Orgien der Künstlichkeit feiert und seinen ausschweifenden Phantasien nachhängt. Halluzinationen, Alpträume, Schwelgereien bestimmen sein Leben.

Apropos Halluzinationen: Es sollten ein paar Worte verloren werden zu den Texten der neuen Lieder. Es ist einerseits schade, dass inzwischen beim Namen genannt wird, was früher in Bildern seinen Ausdruck fand (heute: „Ich bin nicht allein in meiner Sucht, vor den Spießern auf der Flucht“, früher: „Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessiern“), andererseits aber die abgedriftetsten Zeilen nicht gescheut werden: „Angel of Love / Du bist verlässlich / Danke schön.“ Nichts gegen das Zarte, das auch oft genug schön formuliert ist auf Pure Vernunft darf niemals siegen, es gibt Sätze wie „Im Blick zurück entstehn die Dinge / Im Blick nach vorn entsteht das Glück“ oder „Gegen die Welt / Gegen den Strich“, die beweisen, dass Dirk von Lowtzow das Texten wohl nie verlernen wird. Aber wenn etwas klingt, als wäre es nach vier Stunden Russische-Märchenfilme-Schauen, zwei Flaschen Rumpunsch, der Lektüre des Alten Testamentes und dem Zerbrechen der größten, wichtigsten, einzigen Liebe geschrieben, verbietet es einzig der Respekt vor der Band, von Kitsch zu sprechen. Selbstaufgabe deluxe: „Mein Prinz / Wir geben uns dir hin.“

Was die musikalische Seite betrifft, kann (und will) man nicht groß klagen: Ähnlich wie das Vorgängeralbum klingen die 13 Lieder, keine Schrammelgitarren wie in den 1990ern mehr (und nein, damals war nicht alles besser), von Lowtzows Stimme ist gewohnt dunkel und eindringlich und vermutlich die einzige Stimme Deutschlands, die überhaupt solche Texte singen kann, ohne peinlich zu sein. Manches klingt sehr schön („Gegen den Strich“, „Mein Prinz“), manches gut („Aber hier leben, nein danke“ – eine der besten Zeilen btw) und manches nicht erwähnenswert.

Kaum eine deutsche Band hat innerhalb von zehn Jahren eine derartige stilistische Wandlung vollzogen wie Tocotronic. Dass im Zuge dieser Veränderungen ein Werk wie Pure Vernunft darf niemals siegen (die Aussage des Titels zumindest ist unangreifbar) herauskommen ist, könnte spätestens beim nächsten Endzeit-Visionen-Boom wieder interessant werden.

(Friederike Haupt)

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