Die Frage, welches Werke seine bedeutendsten sind, muss bei der Lesung zu Fühmanns 80. unbeantwortet bleiben
Auf dem Handzettel zur Lesung steht: „F.s bedeutendste Arbeiten sind die Novellensammlung Das Judenauto (1962), die Erzählungen Der Jongleur im Kino (1977), die tagebuchartige, fragmentarische Lebensbilanz 22 Tage oder die Hälfte des Lebens (1973) und ein großer Essay über G. Trakl, der ebenfalls Lese- und Lebenserfahrungen verknüpft: Vor Feuerschlünden (1982).
Mich irritiert die Bestimmtheit der Aussage. Ebenso gut ließen sich Fühmanns Gedichte, diverse Arbeiten mit mythischen Stoffen (z.B. Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus, Prometheus, 1980), das großartig sprachverspielte Buch Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm zu Babel (1978) oder der Erzählband Saiäns-Fiktschen (1981) anführen, Bücher, die zu DDR-Zeiten nur so verschlungen wurden. Es ist schwer zu sagen, welche Arbeiten die bedeutendsten sind.
Vier besetzte Stühle stehen auf der Bühne, dazwischen drei graue Hocker zur Ablage der Manuskripte. Nach einer kurzen Einführung von Dagmar Borrmann, Dramaturgin am Schauspielhaus, („Franz Fühmann gehörte zweifellos zu den großen Schriftstellern unseres Jahrhunderts, und trotzdem muß man befürchten, daß er in Vergessenheit gerät…“) kommt Leben in die Interpreten. Loses Papier in den Händen, liest jeweils einer, während die anderen ihm aufmerksam ins Gesicht schauen.
Der erste Fühmanntext, die bekannte Geschichte Das Judenauto, führt in Fühmanns Kindheit zurück („Wie tief hinein reicht das Erinnern?“). Fühmann (1922-1984) war vor dem zweiten Weltkrieg Anhänger des Nationalsozialismus. Psychologisch feinsinnig erzählt er aus der Ich-Perspektive von einem Schuljungen, dessen unschuldige Phantasie durch Gerüchte so in Gang gesetzt wird, daß er sich von einem gelben mädchenschlachtenden Judenauto verfolgt sieht. Mit diesem „Erlebnis“ prahlt er vor der Schulklasse. Nach der Aufdeckung seiner Falschaussagen fühlt er sich nicht schuldig, sondern beginnt die Juden aus Scham vor der Klasse zu hassen: „Juden, sie waren Schuld.“
Es folgen Auszüge aus Texten Über Franz Fühmann, in denen er als einer dargestellt wird, durch den die Ideologien schmerzhaft hindurchgegangen seien und der „zu sich selbst kommen wollte in der Schule des Irrwegs“. Mit störrischem besessenem Fleiß habe er geschrieben, wobei er sich mehrmals eine Kaffeevergiftung zuzog, habe die Texte unablässig geändert und überklebt, kein Wort neben dem anderen gelassen, um schließlich doch eine gültige Fassung zu erhalten (ein Blatt konnte Brettstärke annehmen), sein Lieblingswort sei „Orgien“ gewesen, und gerade dieses Unbedingte, das Orgiastische sei es, was an dem „Glücksgott und Schmerzensmann“ Fühmann begeisterte.
Die Entdeckung des Abends ist für mich der Fühmanntext „Erzvater und Satan“, eine Hinterfragung biblischer Opfergeschichte. Darin verhindert Satan mit „gemeinen Schlichen“ (zum Beispiel gibt er sich auf einer Wolke fälschlicherweise als Gott aus), daß Vater Abraham als Zeichen von Treue und Hingabe das Beste und Schönste seinem Gott opfert, also seinen Sohn schlachtet. Die böse gute Geschichte spielt mit der Umkehrung von Gut und Böse; aufblitzende Heiterkeit steht neben beißender Bitternis. Als Vater und Sohn nach Satans Eingriff und unter dem Grollen des betrogenen Gottes unbeschadet ins Dorf zurückkehren, um sich der Mutter zeigen, die gottesergeben dem Opfer zugestimmt hatte, hat sie sich bereits das Schwert in die Scham gestoßen „…bis zu jener Höhle, darin das unbotmäßige Herz hockt.“
Schwenk zur DDR-Zeit Fühmanns. Briefe werden vorgestellt, in denen er mitteilt, nicht länger Vorstandsmitglied im Schriftstellerverband sein zu wollen (Grund: Ausreise von Sarah Kirsch); Gespräche mit Kurt Hager werden angerissen. Danach folgt die „Spiegelgeschichte“, eine Satire auf die Partei, die sich in Gestalt eines zu früh gekommenen Parteifunktionärs auf einer Gewerkschaftsversammlung breit macht: „Ihr traut euch ja was, die Partei warten zu lassen“. Faszinierend ist, wie Fühmann es schafft, Stimmungen aufzubauen, insbesondere die Totenstille unter den wartenden Veteranen zu zeichnen („Die Unruhe völliger Stille kam auf, eine Stille oder besser: ein Vakuum von Geräuschen“). Die Schauspieler rezitieren angenehm, aber diesen Abend machen die Texte.
Zuletzt wird ein Auszug aus Fühmanns handschriftlichem Testament vom 26. Juni 1983 gelesen. Bei der nächtlichen Suche in Bücherregalen nach der Geschichte Erzvater und Satan finde ich Fühmann lebendig: „Aus meiner Haut werde ich nicht mehr können und konnte ich nie. Aber in ihr steckend: das Möglichste daraus machen, den Mut zu allen ihren Möglichkeiten haben, und das wäre bei meinem böhmischen Erbe der Mut zum Schießenlassen der Phantasie, der Mut zum Barocken, der Mut zum Traum und Paradoxen“.
Den Katzenartigen wollten wir verbrennen
Lesung zu Franz Fühmanns 80. Geburtstag
Rezitation:
Barbara Trommer
Matthias Hummitzsch
Tobias J. Lehmann
Martin Reik
Textauswahl:
Dagmar Bormann
Carmen Wolfram
Kommentar hinterlassen