„Zeit für den Ozean” – Filmrezension (Sarah Rehm)


Ein Film über „Das Weiße Rauschen“

Der Film „Das weiße Rauschen“ von Hans Weingartner, einem Absolventen der KHK Köln, ist in den Leipziger Kinos angelaufen. Wer sich gerufen fühlt, diesen zu sehen, wird die Gefahr einer Schizophrenie nicht bestreiten können, vor der der Mensch nicht mehr fortlaufen kann. Der Geist spielt mit uns ungelogen schreckliche Spiele. Den Versuch einer Flucht oder vielmehr eine tapfere Auseinandersetzung des Opfers mit sich selbst und zugleich ein Ausgeliefertsein an das Leben in sich kann der Zuschauer in der Geschichte des Films finden. „Ich suche nach einer Weise, auf die ich mein Leben führen kann“ sagt Lukas, den Daniel Brühl mit vertrauenerweckender Ehrlichkeit spielt. Nachdem er aus dem Dorf in die Stadt gezogen ist und versucht, die Uni zu besuchen, erweisen sich die Vermutungen der besorgten Schwester als hinfällig, dass die Überforderungen, die der Junge in Unternehmungen des Alltags beweist, und die Verwirrung, die sein Handeln überzieht, ursprünglich von den Strapazen der vielen Veränderungen oder dem gemeinsamen anfänglichen Drogenkonsum ausgingen.

Was Lukas erlebt, ist die systematische Ausgrenzung aus einer Welt, die er bisher für selbstverständlich und ihm zugeneigt erfahren hat. Eine Verbannung, die auch von ihm selbst beeinflusst wird, wenn in seinem Denken die anderen als gegen ihn verschworene Feinde erscheinen. Die Intensität, mit der der Junge versucht, den Ursprung der Stimmen zu ergründen, die ihm erscheinen, ihn mehr und mehr umgarnen und an ihm haften, bleibt subtil, wird allein durch ein rauschendes Echo gesprochener Sätze, Vorwürfe, Beleidigungen und Verletzungen zum Ausdruck gebracht. So wie Lukas reagiert, so vergessen wir bekannterweise einmal einen Stift, den wir beim Suchen in der Hand gehalten haben, wie wir später erst entdecken. Oder wir können uns nicht mehr erinnern, was uns jemand gesagt hat, was wir mit dem Gang zum anderen Zimmer holen wollten, und wir lachen. Das ist Abschalten, Abgekapptsein, das ist Freisein, frei im Raum ohne das Wissen der anderen, das Bodenlose.

Lukas findet den Beweis der Harmlosigkeit von Seltsamkeiten nicht, und in seiner Schizophrenie werden seine Möglichkeiten, die Wunder eines jungen Lebens zu gestalten, ohne sich beobachtet, besprochen zu fühlen, mehr und mehr eingeschränkt. Nach einem Aufenthalt in einer Klinik, vor dem ihn die Schwester noch zu bewahren versuchte, erfüllt sich ihre Vorahnung, dass ihr Bruder seine Verzweiflung als eine gänzlich andere, bleibende, durch die Abhängigkeit von Tabletten bewiesene Verurteilung erfährt. Als er seine rationierten Tabletten in die Toilette geworfen hat und seine Arme ausstreckt im strömenden Regen und tanzt, nimmt sein Wunsch, ohne Schuld vor sich selbst sein zu können und zu dürfen, auf traurige Weise Gestalt an. Von nun an werden ihn die Menschen erkennen, als einen zum Getriebensein Auserkorenen.

Schlicht und ohne Spektakel unternimmt Lukas den erfolglosen Versuch, diesen von irgendwoher diktierten lebendigen Wahnsinn zu beenden. Zwei Hippies sind an einem Ufer zugegen und bringen ihn wie einen für den Weg zum Wasser noch nicht reifen Fisch an Land. Dieses Bild, das zum Ozean weist, liegt nicht fern und kommt Lukas‘ Sehnsucht nah. In der Mythologie sollen Fische den Gottheiten ähnlich und heilig sein, weil sie den Menschen von den Schatten des Todes ins Leben zurückgeleiten. Die beiden Retter verlangen nichts und prüfen nichts, weswegen Lukas plötzlich eine fragwürdige Zuflucht erfährt. Letztendlich wird er von der in Bussen lebenden Gemeinschaft sogar zum Meer geführt. Doch nach einiger Zeit fühlt er sich abermals der Verantwortung nicht würdig.

Es ist bemerkenswert, auf welche Weise die Erwartung des Zuschauers auf die Probe gestellt wird, jedesmal, wenn Lukas in seiner Verzweiflung arrogante Züge annimmt, um Aufmerksamkeit zu erwecken. Dieser Film bewegt sich sehr dicht am Menschen, allein schon wegen seiner Kameraführung. Die Digitalkamera erkundet die Rundung des Ohres, die von Lukas‘ Wesen her ruhig forschenden Augen, die Hektik, mit der seine Schwester anfangs in das Auto springt, nachdem sie ihn verspätet abgeholt hat. „Hast du mich vergessen?“ fragt er und kündet sein Verlorengehen an. Nein, sie hat nur beim Sex am Vormittag zu spät an ihn gedacht. Und seine Vormittage werden sich mehr und mehr im Leben verspäten wegen eines Denkens, das es nicht gut mit ihm meint. Ein Hippie wird ihm von dem „Weißen Rauschen“ erzählen, das im Abspann des Films die Form des Meeres annimmt. An dessen Küste lässt sich der Junge absetzen. Die Fähigkeit, aktiv und auch erfolgreich zu leben, hat er inzwischen an sich entdeckt.

Das „Weiße Rauschen“ verhilft einem jeden, der zur Beobachtung Mut hat, zur Erfahrung des Wahnsinns, wenn er „normal“, und zur Erlangung der Normalität, wenn er „wahnsinnig“ gewesen ist. Wenn Lukas am Strand sitzen bleibt und bis zum Ende des Films nicht verschwindet, dann wird er in der Erinnerung des Zuschauers immer dort sein: in den Kronen der Wellen, die sein Königsein sind.

(Sarah Rehm)

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