22.02.2002, Gewandhaus, Großer Saal, „Chorsinfonik“
Ludwig van Beethoven
-Fantasie c-Moll op. 80 für Klavier, Chor und Orchester
-Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125
MDR Chor und Sinfonieorchester
Dirigent: Fabio Luisi
Choreinstudierung: Howard Arman
Solisten:
-Markus Groh, Klavier
-Susan Anthony, Sopran
-Natela Nicoli, Mezzosopran
-Herbert Lippert, Tenor
-Andreas Scheibner, Bass
Luisis Sieg oder Die Schlacht um die Neunte
Ein Schelm, wer Arges dabei denkt, wenn Fabio Luisi und die MDR Sinfoniker wenige Wochen nach Silvester die Neunte aufs Programm hieven. Es erfordert eine gehörige Portion Mut und Selbstbewusstsein, zum vergleichsweise ungünstigen Zeitpunkt (wer möchte im Februar schon die Neunte hören) das Gewandhaus mit seinem Renommierstück auf eigenem Platz schlagen zu wollen. Da hätte man leicht bei geringer Zuschauerresonanz schon die erste Abreibung erfahren können. Doch siehe da, höre und staune, das Haus ist ausverkauft. Schlangen vergeblich Wartender bilden sich lange vor Beginn an der Kasse.
Schon die Kombination mit der herrlichen Chorfantasie ist eine glückliche Programmwahl. In seiner formalen Anlage ist dieses Werk ein Unikat, sicher eines der merkwürdigsten Gebilde, die je hervorgebracht wurden. Dies jedoch nicht, weil es misslungen wäre, wie ein voreiliger Rezensent schrieb, sondern weil es einem anderen, neuen Formprinzip gehorcht, das auf Beethovens Spätwerk und auf spätere Zeiten vorausweist.
Aus amorphen Klangmassen bildet der Pianist in improvisatorischer Manier ein Thema heraus. Dieses Thema greifen dann einzelne Instrumente aus dem Orchester auf, um es in kammermusikalischen Besetzungen zu variieren. Das anschließende Orchestertutti wird schließlich durch den Chor erweitert, der die unglaublich einnehmende Melodie mit Stimmgewalt zum weltumarmenden Finale führt. Hinter der üblichen thematischen Arbeit vollzieht sich dabei eine tieferliegende musikalische Entwicklung, eine Art Metaebene. Sie geht aus vom Klang als rein akustischem Phänomen, leitet über zum Klang als thematischem Gebilde und endet schließlich beim Klang als Sinnbild einer ästhetisch gestalteten Natur. Diese – freilich nur spielerisch verwendete – „Von-Nacht-zu-Licht“-Symbolik macht der Gesang evident: „Wenn der Töne Zauber walten / Und des Wortes Weihe spricht / Muss sich Herrliches gestalten / Nacht und Stürme werden Licht.“
Chor und Orchester des MDR führen die Fantasie nicht zum ersten Mal unter Luisi auf. Heute kommt noch das wunderbare Spiel von Markus Groh hinzu, das sehr differenziert, sehr zart und dennoch sehr artikuliert ist. Und der Chor lässt einmal mehr „der Künste Frühlingssonne“ strahlen, von der im Text poetisch die Rede ist. Als Beethoven nach einer Melodie für Schillers Ode an die Freude suchte, mochte er mit Bedauern festgestellt haben, dass die dafür ideale Weise für die Chorfantasie schon vergeben war. Schillers Text hätte sich ihr problemlos unterlegen lassen. Und tatsächlich verleugnet die Melodie der Neunten ihre heimliche Herkunft nicht.
Ja, die Neunte. Wie mit einem dicken Stift zeichnet Luisi von Beginn an all die Brüche und Risse nach, die das Werk durchziehen wie gesprungenes Glas. Wenn Motive aneinander stoßen, werden sie nicht metrisch eingeordnet, sondern erscheinen als gleichberechtigte Gebilde, die in ihrer Forderung nach melodischem Raum einander ausschließen, und zwar unabhängig davon, auf welcher Zählzeit sie erscheinen. Wenn sie dagegen simultan auftauchen, forciert Luisi die instrumentalen Differenzen, so dass auch hier die Kontraste stärker hervortreten als die harmonischen Befriedungen. Andererseits wird auf diese Weise gerade die Substanzgemeinschaft der verschiedenen Abschnitte spürbar, die alle aus demselben thematischen Stoff entstanden sind. So wirkt der Kopfsatz wie eine Episodenerzählung: kein großer rhapsodischer Erzählfluss, sondern schroff wechselnde Geschehnisse mit immer denselben Hauptfiguren.
Begünstigt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass jede wolkige Klanghülle um das Orchester schon im Ansatz vermieden wird. Wenn sich die Kräfte ballen, dann werden leise trockene Passagen mit kammermusikalischer Güte in periodischer Regelmäßigkeit mit Beben und Stürmen überzogen, die den Saal erzittern lassen. In dieser unbändigen Kraft findet sich vieles, aber bestimmt kein Nebel.
Mit schneidender Schärfe erscheint das Scherzo, der zweite Satz. Das selbst in stillen Momenten unerbittliche Rattern der Dreierviertel wird sporadisch unterbrochen von unterdrückten Aufschreien einzelner Instrumente, als könnten sie nicht mehr schnell genug zur Seite springen. Kammermusikalische Intermezzi im Trio erinnern schon an die Chorfantasie. Luisis Dirigat, das im ersten Satz sehr plastisch das Bemühen veranschaulichte, immer mehr die Extreme auszureizen, immer tiefer Atem zu holen, ist nun feinsinnig und präzise wie ein Uhrwerk.
Im Adagio ist Luisis Sicht vielleicht am überraschendsten. Wie Herakles dem Atlas nimmt er diesem Satz alle Schwere (und sei sie noch so süß) von seinen Schultern. Vor allem die etwas später mit dem Andante einsetzende und durch ihre Vorhalte so wehmütige Hauptmelodie erhält eine fast unerträgliche Leichtigkeit, die sie tänzerisch, wienerisch, fast möchte man sagen: schubertisch, erscheinen lässt.
Auch im Finale bemüht sich Luisi konsequent, jedes Pathos zu vermeiden. Bereits im Eingangschor „Freude schöner Götterfunken…“ dreht er nach kurzer Zeit die Lautstärke zurück und entdeckt besinnliche Züge im strahlenden Gesang. Ansonsten gelingt ihm solches Vorhaben weiterhin durch das Prinzip extremer Tempi und prononcierter Rhythmik.
Martialisch, beweglich, zielsicher und explosiv gerät die Aufforderung: „Froh, wie seine Sonnen fliegen / Durch des Himmels prächt’gen Plan, / Laufet Brüder, eure Bahn, / Freudig wie ein Held zum Siegen.“ Den größten Kontrast dazu bildet die Strophe: „… Ahnest du den Schöpfer, Welt? / Such‘ ihn überm Sternenzelt! …“ Denn hier hält Luisi plötzlich die Zeit an. Alle Bewegungen erstarren und lösen sich in zarten, leisen Harmonien auf. Aus Gesang wird das Raunen ferner Geister und die ganze Stelle zu einem mystischen Augenblick. So betrachtet, könnte dies auch ein ganz modernes Chorwerk sein.
Was Beethoven in der Chorfantasie noch mit spielerischer Freundlichkeit vermittelte, könnte man in der Neunten als ästhetisches Vermächtnis verstehen. Statt humanistischem Pathos wäre Kunst dann die geistig durchdrungene Natur; gerade in einer Interpretation, wie sie Luisi und das Rundfunksinfonieorchester geboten haben, erscheint diese Deutung plausibel. Insofern endet der Schlusschor folgerichtig mit der Vehemenz einer Naturgewalt.
Riesiger Jubel und Bravos – vor allem für den Chor – durchbrausen im Anschluss den Saal. Endloser Applaus. Und dann passiert etwas Erstaunliches. Als sich nach langer Zeit der bescheidene Dirigent plötzlich allein auf der Bühne sieht, weil Chor und Orchester sitzen geblieben sind, erhebt sich mit einem Mal wie auf ein Zeichen der ganze zweitausendköpfige Saal, um diesem Mann seine Reverenz zu erweisen. Für Fabio Luisi ist das ein großer Triumph; denn seine für gewöhnlich unkonventionellen Programme und Klassikerinterpretationen haben es bisher schwer gehabt, bei den Leipzigern die gebührende Anerkennung zu finden. Dabei ist das Publikum doch der eigentliche Gewinner beim Wettstreit der Orchester.
(Marcus Erb-Szymanski)
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