Leipzig ist die glücklichste Zeit

Eine Neuerscheinung als Wiederentdeckung – Romanempfehlung von Roland Leithäuser

Ronald M. Schernikau (gest. 1991) siedelte 1986 in die DDR über, wo er geboren war und wohin er nach Stationen in Hannover und Berlin wieder zurückkehrte, um in Leipzig am renommierten Literaturinstitut Johannes R. Becher zu studieren. Seine dort im Jahre 1988 vorgelegte Abschlußarbeit liegt nun in einer überarbeiteten Fassung erneut in Buchform vor.

Und fürwahr, Die Tage in L. (man beachte den programmatischen Untertitel) sind weit mehr als die Eindrücke des jungen S., der, von der bundesrepublikanischen Gesellschaft zutiefst enttäuscht, sein Heil im sozialistischen Osten der geteilten Nation suchte. Vielmehr ist das Buch eine beeindruckende Studie über die Befindlichkeiten der Bürger dies- und jenseits des sogenannten Eisernen Vorhangs. Die Tage in L. schildern Schernikaus Leben im Westen, den langsam reifenden Entschluß zur Republikflucht im eigentlichen Sinne, die allmähliche Gewöhnung an das Gesellschaftssystem der DDR, dessen unauflösbare Widersprüche, die Zensur, die Lebensbedingungen, aber auch den natürlichen Charme des Lebens im Leipzig der unmittelbaren Vorwendezeit.

Wenn der Freund und Verleger Hermann Gremliza im Vorwort schreibt, „Die Tage in L. ist ein Buch über die DDR“, so stimmt diese Aussage nur bedingt. Der Reiz der Lektüre von Schernikaus Buch ergibt sich im wesentlichen nämlich aus dem Spannungsfeld der unterschiedlichen Lebensformen in Ost und West, der zunehmenden Kulturfeindlichkeit der Bundesrepublik, wie der Autor sie empfindet, gegenüber einer funktionierenden Hoch- und Subkultur im Osten, die allerdings stets einer restriktiven Zensur unterworfen bleibt.

Anregend liest sich das Buch darüber hinaus aufgrund seiner heterogenen, montagehaften Struktur. Schernikau versammelt alltägliche Episoden, philosophische Sentenzen, Tagebucheinträge und Gespräche mit Freunden zu einem eindringlichen Ganzen, das in Anlehnung an Adorno Aufzeichnungen aus dem beschädigten deutsch-deutschen Leben nachzeichnet. Dem Primat der kleinschreibung verpflichtet, läßt sich der Autor aus über Hegel und Marx, Diskobesuche in Leipzig und das Ausleben der eigenen homoerotischen Neigungen, was sich, wie Schernikau resigniert am Ende seines Buches konstatieren muß, in Ost wie West gleich kompliziert gestaltet.

Manches Mal fühlt sich der Leser bei der Lektüre an die Schriftsteller der beat generation erinnert, an ihre Liebe zur Musik und zur eifrig-beflissenen Beschreibung der Subkultur. Tatsächlich hat sich Schernikau bei der Montage des Buches einer Methode bedient, die an den cut-up-Stil des Amerikaners William Burroughs gemahnt. Ein Paradoxon eigentlich, denn nicht zuletzt vor der zunehmenden Amerikanisierung Westdeutschlands flieht der Autor in den Osten, bezieht eine Wohnung in der Nähe des Augustusplatzes, lebt, liebt und studiert im Leipzig der späten 80er Jahre und hütet sich dabei, die Zustände in der Deutschen Demokratischen Republik verklärt oder romantisch zu reflektieren: „also ich gebe zu, die ddr nervt. die ddr, wenn sie manches nicht tut, was man sonst so kennt, sie nervt. sie nervt. sie nervt tatsächlich. ein beispiel noch, ein letztes.“ Und sie nervte Schernikau gerade dann, wenn er, der vor dem westdeutschen Bürokratismus ins sozialistische Nachbarland Ausgewanderte, dort auf überbordende bürokratische Verhältnisse stößt, welche die postulierte Gleichheit aller im sozialistischen Staat regulieren sollen.

Da Schernikau Literat ist, mokiert er sich dabei im Besonderen über den ostdeutschen Literaturbetrieb, die Publikationspraxis von reclamverlag und aufbauverlag und die Tatsache, daß die großen DDR-Schriftsteller allesamt ihr Heil im Westen suchen, da sie im eigenen Land nichts gelten, zensiert und politisch mundtot gemacht wurden. Die Tage in L. ist daher auch eine Auseinandersetzung mit der gesamtdeutschen Nachkriegsliteratur und thematisiert voll trauriger Ironie deren ideologische Vereinnahmung in beiden Teilen der gespaltenen Republik: „1986, 1987 und 1988 bekommen nacheinander christa wolf, heiner müller und volker braun von der regierung der ddr jeweils 100000 m geschenkt, mit einer büroklammer drangeheftet den nationalpreis 1. klasse. zum dank veröffentlichen sie jeder ein buch ganz allein im westen, und zwar aufsätze und reden. Alle drei. – was ich sagen will: natürlich wird die ddr demnächst damit anfangen, ihre autoren zur kenntnis zu nehmen, alles andere wäre albern. aber ist nicht ihr bemühen wirklich rührend, probleme lieber zu ignorieren statt wenigstens erst mal auszuhalten? ich finde das liebenswert. es ist falsch, natürlich: und lieb.“ Was bleibet, sagt Schernikau mehr als einmal, stiften nicht mehr die Dichter, sondern nur noch die politischen Klassenkämpfe, der kapitalistische Wohlfahrtsstaat gegen den sozialistischen Bruderstaat. Mit Hegel ahnt der Autor das nahende Ende der Geschichte, wie wir sie kannten, und sollte damit Recht behalten.

Die politischen Sottisen Schernikaus, das muß allerdings angemerkt werden, verlieren an Bissigkeit und Originalität, sobald er ins Dozieren abgleitet. Der politische Diskurs läßt sich am besten im Alltag führen, so manche Notiz über Diskobesuche oder die Arbeit in einem Kohlebergwerk ist für den am politischen Tagesgeschehen der damaligen Zeit interessierten Leser mit weitaus mehr Gewinn zu lesen als des Autors mitunter groteske Rezeption der Marxschen Philosophie. Doch kann man dies dem ehemaligen Philosophiestudenten Schernikau nachsehen, denn der positive Gesamteindruck seines Lesebuches überwiegt bei weitem: hier meldet sich ein vorzüglicher Beobachter zu Wort, ein Chronist des Lebens in zwei deutschen Staaten, ein marxistischer, homosexueller Literat, klassischer Außenseiter im einen wie im anderen System, der anschreibt gegen die Wut an den Zuständen, gegen die Lethargie der Mitmenschen, gegen die Instrumentalisierung der Künste.

Dem Rezensenten sei an dieser Stelle noch ein persönliches Wort gestattet. Er folgte fünfzehn Jahre nach Schernikau dem Ruf Leipzigs und nahm sein Studium an der ehemaligen Karl-Marx-Universität auf. Die Tage in L. sind ihm zu einem wichtigen Buch geworden, einem Buch über Leipzig und die Literatur, einem Werk, das schon vor der Wende von der Möglichkeit sprach, die oft zitierte „Mauer in den Köpfen“ zu überwinden. Viele der im Buch beschriebenen Eigenheiten der ehemaligen DDR und ihrer Bürger mögen dem Studenten aus Westdeutschland auch heute noch in Leipzig auffallen, den Ignoranten mögen sie verwundern oder verärgern. Wer Schernikaus Buch gelesen hat, dem erscheinen sie fortan in einem neuen Licht: Es sind charmante Züge einer Stadt, die auf ihre Weise die Vielschichtigkeit der deutschen Geschichte versammelt, die Kunst, die Politik, das bunte Leben, welches den Dichter zu Großem vorantreibt, wie Schernikau uns zeigen will, wenn er Tucholsky zitiert: „man kann nicht schreiben, wo man nur verachtet.“

Ronald M. Schernikau: Die Tage in L.
darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur
Mit einem Vorwort von Hermann L. Gremliza

Hamburg 2001
213 S., 15 €

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