12. März 2002
Kammermusiksaal, Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“
Quartettabend: Iturriaga Quartett
Aitzol Iturriagagoitia – 1. Violine
Iokine Iturriagagoitia – 2. Violine
Katia Stodtmeier – Viola
Rebekka Riedel – Violoncello
Ludwig van Beethoven: Streichquartett in F-Dur op. 59 Nr. 1
Ignace Strasfogel: Streichquartett Nr. 1 (1927)
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Klaus Hinrich Stahmer: „Em-bith-kâ“ für string quartet (1998)
Günter Raphael: Streichquartett Nr. 2 op. 9 (1925)
Und jedem Anfang wohnt(e) ein Zauber inne…
Kammermusik des Iturriaga Quartetts
Klassizistische Strenge, sachliche Einfachheit, leichte Farben, auf der Bühne ein Teppich in industriellen Mustern ehemaliger Gestaltungseinfalt. Der Kammermusiksaal strahlt ebenso wie die in ihm bevorzugt gespielte Musik den Nimbus zurückgezogener, intellektueller Ausgesuchtheit aus, nicht zu übersehene, von der Decke herabhängende Mikrofone geben den Anklang technischer Kühle, korrespondierend damit der Mini-Disc-Recorder zum Mitschnitt in der ersten Reihe. So ergreift mich beim Eintreten gleich jene seltsame vernünftige Aufregung, die der Ausblick auf ein besonderes, aber den Bahnen bürgerlicher Konzertesoterik gehorchendes Ereignis mitsichbringt und die eine besonnene Feierlichkeit über den Raum legt.
Der exotische Klang der baskischen Gefilden entstammenden Namen der beiden Violinisten passt gut zu den aus Meisterklassen und Wettbewerben zusammengesetzten Lebensläufen, die ich den in dezentem Orange gehaltenen Programmblättern entnehme. Seit sechs Jahren bestehend hat auch das Ensemble einiges an Ehrungen vorzuweisen, vor allem aber ein ungewöhnliches Repertoire, das neben dem ?klassischen‘ Standardprogramm in besonderem Maße selten Gespieltes vornehmlich des 20. Jahrhunderts beinhaltet.
Der Beginn rückt näher. Auswahl des Platzes nach Akustik und Optik. Bedächtige Stille. Eintritt der Musiker. Gleichartige, aber in Form des Ausschnitts und der Schuhe leicht variierende Kleidung der Damen – wohl gemäß des jeweiligen Temperaments, davon abgesetzt der Anzug des ersten Violinisten. Und dann: die Musik.
Das Beethovensche Streichquartett beginnt mit herzerfrischender, fast pastoraler Unbeschwertheit und bahnt sich seinen Weg durch zwischen den Stimmen fließend wechselnde Melodiestränge. Stimmgleichberechtigung und Stilkomplexität verlangten im 19. Jahrhundert den Zuhörern einiges ab und beschritten ungewöhnliche Wege: folkloristische Ausflüge, bordunhafte Begleitung, ein sanftes, traditionell anmutendes Adagio bis hin zur russischen Melodik im Finale des viersätzigen Werkes. Und dann der klassische Beethovenschluss, der ein Nichtklatschen unmöglich macht.
Ein Sprung über das neunzehnte Jahrhundert hinweg landet im Stil einer ungewissen und überforderten Zeit, in der Musik neu werden wollte und politische Verfemung Raum gewann. So auch bei Ignace Strasfogel: Sein Streichquartett mutet an wie ein Querschnitt durch die damalige Zeit, mit spätromantischen Tonalitäten, russisch pulsierenden Rhythmusverkettungen, Quartakkord-Schichtungen. Das Ensemble spielt das alles mit überbordender Spielfreude und kraftvoller Virtuosität, und der folgende Beifall ist begeistert, aber unruhig, nach mehr verlangend – der dankbarste, den es gibt. Aber eine liebenswürdig erbetene Pause unterbricht das Konzert für einige Minuten, in denen frischer Luft Raum gegeben wird. Klaus Stahmer, von dem das darauffolgende Stück stammt, arbeitet eng mit dem Ensemble zusammen. Auch sein Weg führte durch verschiedene Stile. In letzterer Zeit ließ er sich zunehmend von außereuropäischen Einflüssen inspirieren in der tiefen Überzeugung, dass unser westliches Tonmaterial hoffnungslos ausgelaugt sei. Ich warte daher um so gespannter.
Ende der Pause. Emphatisch beginnt die Violine einen intensiven Gesang. Die mühsam gebändigte Kraft der Tongebilde schlägt um ins scheinbar endlose Wiederholen eines mehrschichtigen Akkords. Seine Auflösung, die neue Spannung bringt, und leise Passagen, die sich in großen Wellen zu neuen Ausbrüchen auftürmen, lassen in ihrer Klanggewalt meinen Fehler erkennen, mich in die erste Reihe gesetzt zu haben. Hier ist eine ursprüngliche Philosophie zu finden, die aus der vollen Kraft des Wiederkehrenden schöpft. Klangsequenzen werden immer und immer wieder gespielt, bis sie plötzlich abgerissen erscheinen in anderen Zusammenhängen. Dies ist eine Musik, die man elementar spürt, ein dissonanter Kontrapunkt zur vergeistigten Umgebung – ohne geistlos zu sein.
Ähnliches ist bei den vier Spielern zu beobachten: eine nahezu archaische Spielfreude in einer organisierten Umgebung. Nach diesem Kraftakt sieht man den Musikern die Anstrengung an, doch unaufhaltsam geht der Weg weiter, wieder in Richtung später Romantik. Nun in Gestalt von Günter Raphael, der zur Zeit dieser Komposition gerade sein Studium beendete und letzte Hand an die vergehende Epoche anlegte, bevor er sich dann den dodekaphonischen Gefilden zuwenden sollte. Anklänge an Vorbilder wie Robert Schumann oder Johannes Brahms werden immer wieder durchbrochen von einem neuen Gestaltungswillen in eigenwilligen Satzfolgen. Dem Beginn mit Präludium und Fuge folgen Abschnitte mit deutsch-romantischen Titeln (?Zart und innig‘, ?Äußerst schnell‘), zum Schluss eine Tarantelle, die noch einmal der Spielfreude und den virtuosen Händen viel Freiraum gibt.
Und hier hat uns die technische Kühle wieder. Das süßliche Klingeln eines vergessenen Handys tönt durch den Raum, emotionalisiert durch den wütenden Blick der zweiten Violine, und schließlich besänftigt durch die angenehm dezente Form eines selbstgepflückten Blumenstraußes, den ein Zuhörer an die Vier verteilt. Die perkussive Verlautbarung der Begeisterung will danach kein Ende nehmen und bekommt ihre Genugtuung in Form eines Satzes von Schumann. Der schließt scheinbar alle Lücken und gibt noch einmal der weiten Bandbreite musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten des Ensembles Gelegenheit, das Publikum zu bezaubern.
(Enrico Ille)
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