16. März 2002
Thomaskirche
Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion BWV 245
mit dem Leipziger Vocalensemble und dem Leipziger Barockorchester unter Leitung von David Timm
Sopran: Constanze Backes
Alt: Susanne Langner
Tenor: Martin Petzold
Christus: Andreas Scheibner
Pilatus, Arien: Thomas Oertel-Gormanns
Passionszeit in Leipzig
In Leipzig hat die „Passionszeit“ begonnen: Insgesamt vierzehnmal erklingt die Leidensgeschichte Christi in unterschiedlichen Vertonungen und Interpretationen. Davon siebenmal mit der Musik von Johann Sebastian Bach, viermal nach dem Evangelisten Johannes, zweimal nach Matthäus und einmal nach Markus in der Bearbeitung von Volker Bräutigam. Außerdem wird die Johannespassion von Heinrich Schütz zweimal sowie die von Johann Weyrauch und eine Matthäuspassion aus dem Jahr 1754 von Georg Philipp Telemann zu hören sein. Selbst ein Werk des 19. Jahrhunderts, das Oratorium Via Crucis von Franz Liszt, wird in diesen Tagen aufgeführt. Ein reizvolles Passionskonzert verspricht auch die Aufführung der „Musicalischen Exequien“ von Heinrich Schütz durch das junge Thomasius-Consort am kommenden Wochenende zu werden. Das einzige Konzert mit Musik des 20. Jahrhunderts war bereits am vergangenen Wochenende zu hören: Das Passionsoratorium nach Johannes „Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, liebte er sie bis zur Vollendung“ von Kurt Grahl mit Texten von Claus-Peter März durch die Chöre der Propsteigemeinde beeindruckte sehr.
Wer die Johannespassion des „alten Bach“ aufführt, noch dazu in Leipzig, darf den Vergleich mit anderen Aufführungen des Werkes nicht scheuen. Fast zwangsläufig wird den Ausführenden eine erkennbar individuelle Interpretation abverlangt. Dabei genügt es so manchem schon, die zweite Fassung von 1725 statt der üblichen erklingen zu lassen. Dies tat David Timm nicht; er entschied sich für die bekannte „gemischte“ Fassung.
Die individuelle Begegnung Timms mit Bachs Werk zeigte sich vor allem in der Instrumentation: Die Parallelbesetzung von Orgel und Cembalo im Continuo (mit Ausnahme der Choräle, bei denen anstelle des Cembalo die „Laute“ hinzugezogen wurde) ist bei Aufführungen bis heute noch immer eine Seltenheit. Dabei läßt sich historisch die zusätzliche Verwendung des Cembalo durchaus rechtfertigen: Für die letzte Aufführung der Passion zu Lebzeiten des Meisters (vermutlich 1749) erstellte Bach mehrere zusätzliche Stimmen. Der Stimmensatz (heute als 4. Fassung bekannt) enthält neben den drei bereits vorher existierenden Continuostimmen (Org., Vc., Vn.+Fg.) eine unbezifferte und eine bezifferte für Cembalo. Unbekannt ist bis heute, ob das Cembalo die möglicherweise nicht funktionstüchtige Orgel bei dieser Aufführung ersetzen oder den Continuo verstärken und bereichern sollte. Die Doppelbesetzung von Orgel und Cembalo ist also nach streng aufführungspraktischen Gesichtspunkten legitim.
Gleichwohl stellt sich dabei die Frage nach der Verwendung der zusätzlichen unbezifferten Continuostimme. Offensichtlich – und dieser Überlegung folgt wohl auch David Timm – strebte Bach für die letzte Aufführung eine Verstärkung des Instrumentalapparates an, denn es wurde auch je eine zusätzliche Stimme für Violine I und Viola erstellt. Eine Zweifachbesetzung des Violoncello hätte sich nicht nur aus dieser Überlegung heraus angeboten – nebenbei stellt sich die Frage, ob nicht generell aus einer unbezifferten Stimme zwei Continuospieler musiziert haben könnten -, sondern wäre auch in Anbetracht des relativ starken Chores sowie der Stimmgewalt der (männlichen) Solisten wünschenswert gewesen. Augenfällig wurde die Problematik besonders bei der Arie Nr. 20, die senza Violone, senza Bassono erklingen soll. In diesem Zusammenhang (bei drei überlieferten Stimmen der Violine I sowie jeweils zwei der Violine II bzw. Viola) ist generell eine stärkere Besetzung der Streicher wenn nicht zwingend so doch möglich. Letztlich bleibt dies aber wohl eine Geschmacksfrage.
Sehr überzeugend waren die Leistungen sowohl des Chores als auch der Solisten. Martin Petzold als Evangelist stellte wieder einmal sein unnachahmliches Gespür für die Dramatik der biblischen Handlung unter Beweis. Doch nicht nur die Rezitative (hervorzuheben sind besonders Nr. 4, 12 und 18), sondern auch die ausgewogen und verinnerlicht vorgetragenen Arien dokumentierten, wie mit Martin Petzold jede Passionsaufführung zum Genuß wird.
Gleich einem Stern am musikalischen Himmel strahlte – leider in Leipzig viel zu selten – der Sopran von Constanze Backes. Bereits nach den ersten Tönen der Arie „Ich folge dir gleichfalls“ zog die Sängerin durch die Brillanz ihrer Stimme und ihre Stilsicherheit den Hörer in ihren Bann. Die wohl dosierten Verzierungen bereits im A-Teil des Stückes ließen nicht nur Freude am Singen, sondern auch eine intensive und individuelle Beschäftigung mit der Musik dieser Zeit vermuten. Die mit Spannung erwartete zweite Arie „Zerfließe, mein Herze“ trieb so manchem die Tränen in die Augen. An Innigkeit ist der Gesang dieser schlichten Worte nicht zu übertreffen. So blieb nur der Wunsch, diese einmalige Stimme öfter in Leipzig hören zu können.
Dem Chor war eine ernsthafte und intensive Arbeit am Stück anzumerken. „Angsteinsätze“ wurden bravourös gemeistert. Die Phrasierungen im Eingangs- und Schlußchor überzeugten unmittelbar. Der Eingangschor wirkte mächtig und schwingend zugleich. Imitierende Einsätze waren vorbildlich herausgearbeitet. Wunderbar gingen die einzelnen Stimmgruppen ins piano, während die jeweils führende Stimmgruppe kräftig, effektvoll und prononciert einsetzte (Nr. 21 „Sei gegrüßet“, „Wir haben ein Gesetz“, Nr. 23 „Lässest du diesen los“ usw.). In einigen der Turba-Chöre ließ sich sogar das Orchester von der expressiven Gangart des Chores anstecken und unterstützte diese.
Besondere Anerkennung verdient Carola Christoph an der Laute (wohl eigentlich: theorbierte Laute, Theorbe bzw. Chitarrone). Sie trat nicht nur im Arioso Nr. 19 und in der Arie Nr. 30 effektvoll mit ihrem schönen Spiel hervor, sondern unterstützte auch souverän den Continuo in den Chorälen. Um wie viel ärmer wäre eine Bachsche Johannespassion ohne dieses Instrument als Bestandteil des barocken Instrumentalensembles.
Einige interpretatorische Besonderheiten ließen dennoch Fragen offen: Warum bindet der Continuo an einigen Stellen des Rezitativs, wie in Nr. 6? Warum hält beim Übergang von vivace zu adagio in Nr. 30 der Continuo eine Fermate und warum nur der Continuo? Freilich waren dies Kleinigkeiten, die den Gesamteindruck kaum schmälerten. Denn die Aufführung der Bachschen Johannespassion durch David Timm und sein Leipziger Vocalensemble war ein eindrucksvolles Erlebnis und bewies einmal mehr den hohen Stellenwert des Chores im Leipziger Musikleben.
(Clemens Harasim)
Kommentar hinterlassen