Aspekte der französischen Dichtung der Gegenwart

Über die neuesten Strömungen der französischen Dichtung: Vortrag von Alain Lance während der Frankfurter Buchmesse 2001

Wenn ich hier einen Überblick über die französische Dichtung der Gegenwart zu geben versuche, will ich von vornherein erklären, dass ich, wie Sie es sich wohl schon gedacht haben, weder erschöpfend noch objektiv sein kann. Denn wenn ich mich anschicke, den Akzent auf einige Richtungen und Gestalten zu legen, deren Bedeutung unbestritten ist, werde ich doch nicht jeder von ihnen genügend Zeit widmen können und gezwungen sein, manchen Aspekt eines so lebendigen wie verschiedenartigen Schaffens unberücksichtigt zu lassen. Wenn es in der Tat relativ einfach ist, die großen Konturen einer Landschaft von weitem zu erkennen, kompliziert sich alles, sobald man tiefer in sie eindringt. Und Sie werden mir sicher zugestehen, dass ich als jemand, der selbst zu den Betroffenen gehört, meine eingestandenen oder heimlichen Vorlieben nicht ganz außer Acht lassen kann.

Ich werde mich jedoch veranlasst sehen, eine große Zahl zeitgenössischer Dichter zu nennen, von denen Ihnen möglicherweise viele unbekannt sind. Aber die Reichhaltigkeit des Themas zwingt mich dazu.

Eine letzte Bemerkung im voraus. Ich möchte mich auf eine Annäherung an die französische Dichtung des „Sechsecks“, des französischen Mutterlandes, beschränken, denn das reiche Corpus der frankophonen belgischen oder schweizerischen Dichtung, der des Québec, der Antillen, des Maghreb oder des subsaharischen Afrika sowie des Indischen Ozeans würde den Rahmen dieses Überblicks – und den meiner Kenntnisse – sprengen.

Vielleicht sollte ich mit einigen Zahlen beginnen. In Frankreich werden jährlich etwa 500 Gedichtbände veröffentlicht. Davon sind jedoch nur die Hälfte Neuerscheinungen; bei den übrigen handelt es sich um Nachauflagen oder Neuausgaben. Die genannte Zahl bezieht sich, wie ich präzisieren möchte, aber nur auf die auf Verlagskosten publizierten Bücher und berücksichtigt nicht jene Hunderte, ja vielleicht Tausende von Bänden, die auf Kosten des Autors publiziert werden, wenn der Autor also selbst einen großen Teil oder die Gesamtheit der Herstellungskosten seines Buches übernimmt. Denn von einigen seltenen Ausnahmen abgesehen ist diese Publikationsweise die Sache jener Autoren, die kein allzu großes Interesse erwecken.

Fünfhundert Gedichtbände – das ist relativ wenig, wenn man diese Zahl mit den über 35.000 Bänden vergleicht, welche die Jahresproduktion des französischen Verlagswesens ausmachen. Besonders wenn man berücksichtigt, dass die Erstauflage eines Gedichtbandes selten 2.000 Exemplare übersteigt und dass davon etwa nur 300 ? 700 Exemplare verkauft werden. Von den großen Verlagen setzen lediglich Gallimard und Flammarion die regelmäßige Editionstätigkeit zugunsten der zeitgenössischen Dichtung mit ihren von den Dichtern André Velter respektive Yves Di Manno geleiteten Reihen fort. Doch es sind vor allem mittelgroße Verlage (wie z.B. P.O.L.) oder sogar Kleinverlage, die Ihren Sitz häufig außerhalb von Paris haben (wie Arfuyen, Al Dante, Cheyne, Obsidiane, Ulysse fin de siècle, Le Temps qu’il fait, Fata Morgana, Farrago, André Dimanche usw.), welche Lyrik veröffentlichen. Die Durchschnittsauflage dieser Bücher schwankt zwischen 500 und 1.000 Exemplaren, doch dafür sie sind häufig sehr schön und mit großer handwerklicher Sorgfalt hergestellt.

Wenn die Poesie also eine Nebenrolle im französischen Verlagswesen spielt, bekundet sie ihre Präsenz dafür in einer beträchtlichen Anzahl von Zeitschriften. Es gibt in Frankreich mehrere hundert Lyrikzeitschriften oder Literaturzeitschriften, die der Dichtung großen Platz einräumen. Gewiss haben viele dieser Publikationen nur eine kurze Lebensdauer und eine begrenzte Verbreitung, doch einige spielen eine unersetzliche Rolle im dichterischen Schaffen der Gegenwart. Ich beschränke mich darauf, nur ein paar davon zu nennen: Poesie 2001, Java, Le Mâchelaurier, Ralentir travaux, if, L’Animal, La Sape, Le Nouveau Recueil, Quaderno und vor allem Po&Sie, die von Michel Deguy herausgegeben wird, sowie die von Henri Deluy geleitete action poétique. Dies ist eine seit vierzig Jahren bestehende Vierteljahreszeitschrift, der 1968 eine umfangreiche Anthologie des Verlages Flammarion gewidmet wurde. In der letzten Zeit kann man auch eine rasche Entwicklung der Websites und Lyrikzeitschriften im Internet beobachten.

Die Situation der Lyrik in der Tagespresse ist weit weniger erfreulich. Le Monde und La Croix bemühen sich zwar von Zeit zu Zeit über das aktuelle dichterische Schaffen zu berichten, und Le Figaro veröffentlicht regelmäßig, wenn auch recht sparsam, Gedichte – übrigens eine außergewöhnliche Praxis in Frankreich im Unterschied zu den Gewohnheiten der Tagespresse anderer europäischer Länder. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk widmet France-Culture (das durchschnittlich von 300.000 Rundfunkteilnehmern gehört wird) der Dichtung mehrere Sendungen. Die kurze tägliche Literaturchronik auf France Inter war schon nach einem Jahr eingestellt worden. Die großen Fernsehstationen, die dem Diktat der Einschaltquoten unterworfen sind, ignorieren die Dichtung fast völlig.

So wäre man also geneigt , ein eher verdrießliches Fazit zu ziehen, wenn nicht paradoxerweise gerade in letzter Zeit ziemlich viel von der Dichtung die Rede wäre. Seit einem guten Jahrzehnt hat sich die Einrichtung der öffentlichen Lyriklesungen, die in unserem Land kaum eine Tradition besaß, sowohl in Paris (Maison de la Poésie, Maison des Ecrivains , Centre Pompidou, Halle Saint Pierre usw.) wie auch in vielen Regionen stark entwickelt. Der Dichter André Velter, der zusammen mit Jean-Baptiste Para (ihm verdanken wir eine wertvolle, im letzten Jahr bei Gallimard erschienene Sammlung zeitgenössischer Lyrik) auf France Culture die Sendung Poésie sur parole (Dichtung beim Wort genommen) produziert, schätzt die Orte, an denen in Frankreich mit gewisser Regelmäßigkeit öffentlich Lyrik gelesen wird, auf etwa hundert. Seit mehr als zwei Jahren berichtet auf Initiative André Parinauds eine sehr gute, in den Zeitungskiosken vertriebene Monatszeitschrift mit dem Namen Aujourd’hui poème über die heutige Dichtung in Frankreich. Wir wollen noch auf eine Aktion der Pariser Metro hinweisen, die seit mehreren Jahren Plakate mit Gedichten in Ihren Waggons und Stationen anschlägt. Es würde zuviel Zeit in Anspruch nehmen, sämtliche Förderinitiativen für die Dichtung aufzuzählen, so z.B. die von Henri Deluy initiierte La Biennale internationale des poètes en Val de Marne, die im November 2001 zum sechsten Mal stattfindet. Alle diese Veranstaltungen könnten ohne Hilfe öffentlicher Institutionen, sei es auf nationaler oder lokaler Ebene, nicht zum Erfolg geführt werden.

Dank der Unterstützung durch das Centre National du Livre können viele Bücher, Anthologien und Lyrikzeitschriften finanziert werden. So haben 1999 136 Bücher eine Förderung des CNL erhalten. Das Cenre National du Livre ist eine öffentliche Einrichtung, die im Wesentlichen durch zwei Gebühren finanziert wird (3 % von den Kosten des Reprographie-Materials und 0,2% vom Gesamtumsatz des Verlagswesens). Unter dem Patronat des CNL gewähren aus Fachleuten zusammengesetzte Kommissionen (Buchhändler, Verleger, Schriftsteller, Übersetzer, Hochschullehrer) anspruchsvollen Editionsprojekten oder Übersetzungen ausländischer Werke finanzielle Unterstützung, erkennen Schriftstellern und Übersetzern Stipendien zu. Und schließlich koordinieren das Ministerium für Kultur und das Ministerium für Nationale Erziehung seit 1999 überall in Frankreich zahlreiche Lyrikveranstaltungen, die jeweils in der letzten Märzwoche unter dem Namen Le Printemps des poètes zusammengefasst werden. Im dritten Jahrgang dieses Festivals, das vom 26. März bis zum 1. April stattfand, wurden über 8000 Veranstaltungen unterschiedlichsten Charakters in ganz Frankreich gezählt.

Nachdem ich – vielleicht etwas ausführlich – auf die materielle Situation der Dichtung im gegenwärtigen Frankreich eingegangen bin, will ich versuchen, ein paar Anhaltspunkte zu ihrer Entwicklung und ihren Tendenzen aufzuspüren. Ich möchte dabei nicht zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückkehren; sie war in Frankreich eine besonders reiche Zeit für die Dichtung mit so starken und unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Apollinaire, Blaise Cendrars, Max Jacob, Pierre Reverdy oder Paul Claudel, danach auch mit der Gruppe der Surrealisten, von denen einige Protagonisten – vor allem Aragon und Eluard – zu Beginn der vierziger Jahre eine wichtige Rolle in der Dichtung der Résistance gespielt haben.

Um die Mitte der fünfziger Jahre erleben wir das Erscheinen von Werken, in denen ein neuer Ton zu vernehmen ist.Yves Bonnefoy, Jacques Dupin, Philippe Jaccottet oder André du Bouchet, die sämtlich in den zwanziger Jahren geboren wurden, beginnen Gedichte zu veröffentlichen, die vor allem mit jener Rhetorik brechen, von der die Résistancedichtung gekennzeichnet war. Ihre diskrete, aber anspruchsvolle Poesie ist an die Frage des Ortes, der Anwesenheit in der Welt, des Verhältnisses zum Elementaren gebunden, ob es nun das der Landschaft oder des Wortes ist. Zusammen mit Gleichgesinnten wie z.B. Paul Celan, dem im Pariser Exil lebenden deutschsprachigen Dichter, und Louis-René des Forêts, einem kürzlich verstorbenen Dichter und Prosaisten, haben diese Autoren von 1966 – 1972 eine Lyrikzeitschrift mit dem Namen L’Ephémère herausgegeben. Von 1973 – 1981 wird Argile, eine andere von dem Dichter Claude Esteban geleitete Zeitschrift, die Arbeit auf ihre Weise fortsetzen, wobei sie der Lyrikübersetzung und dem Dialog mit der Malerei großen Platz einräumt.

Mitte der sechziger und zu Anfang der siebziger Jahre beginnen die Poeten der folgenden Generation die dichterische Sprache grundlegend in Frage zu stellen. In dieser Zeit, die von einer starken Politisierung und gleichzeitig von einem starken geistigen Gärungsprozess (vor allem in den Humanwissenschaften einschließlich der Linguistik und der Psychoanalyse) gekennzeichnet ist, vertiefen viele Poeten ihr Nachdenken über die dichterische Schreibweise. Diese Suche wird von zwei bedeutenden Gestalten repräsentiert: Michel Deguy und Jacques Roubaud. Der eine wie der andere nimmt seit dreißig Jahren einen entscheidenden Platz in der dichterischen Landschaft Frankreichs ein. Michel Deguy führt gleichzeitig ein lyrisches und ein kritisches Werk fort, wie dies sein vor wenigen Monaten erschienener Essayband La Raison poétique bezeugt. Jacques Roubaud hatte 1978 in einem ausgezeichneten Essay mit dem Titel La vieillesse d’Alexandre (Das Greisenalter Alexanders) das Heraufkommen einer „Krise des Verses“ um die Mitte der sechziger Jahre signalisiert, die jener vergleichbar war, zu der es gegen Ende des 19. Jahrhunderts gekommen war und die Mallarmé in einem Essay mit diesem Titel analysiert hatte.

Französische Dichter haben auf diese Krise unterschiedliche Antworten gegeben. An den Weg zweier Autoren möchte ich hier kurz erinnern. Der erste ist Denis Roche. Denis Roche, Redaktionsmitglied der von Philippe Sollers begründeten Zeitschrift Tel Quel , veröffentlichte 1968 Eros énergumène. Er wollte dem Lyrischen ein Ende setzen, indem er die Waffen des Spotts einsetzte, um die Gefilde der Poesie zu verheeren. „Die Dichtung ist unzulässig. Übrigens gibt es sie/gar nicht“ lautet der Anfang eines seiner berühmt gewordenen Gedichte. In den gegen Ende der sechziger Jahre publizierten Gedichten tritt Denis Roche auf so radikale Weise als „poeta interruptus“ auf, dass er bald nach der Veröffentlichung seines Buches Le Mécrit von 1972 ganz aufhört, Gedichte zu schreiben.

Der zweite ist Robert Lorho. Er hatte gegen Ende der fünfziger Jahre zwei Gedichtsammlungen mit einer recht zahmen, harmonischen Lyrik in der Tradition Supervielles veröffentlicht, die ihm das Lob der Kritik und zwei Literaturpreise eingebracht hatten. Danach durchlebt er eine längere Krise und veröffentlicht etwa zehn Jahre lang überhaupt nichts, worauf 1971 zwei Bücher in einer völlig neuartigen barocken, aleatorischen Schreibweise erscheinen, die er unter dem Namen Lionel Ray veröffentlicht. Der Titel eines dieser Bücher, das seinerzeit von Aragon begrüßt wurde, ist bezeichnend: Les métamorphoses du biographe. Der Dichter hatte tatsächlich eines Identitätswechsels bedurft, um sich seiner neuen Sprache ganz zu versichern.

In den siebziger und achtziger Jahren zeichnet sich ein Teil der neuen Dichter durch eine trockene, sogenannte „weiße“ Schreibweise aus, wobei sie sowohl die musikalischen Qualitäten des Verses als auch die Verwendung von Metaphern ablehnen. Viele dieser Poeten schenken dafür dem Einsatz eines fragmentarischen Verses, dem Spiel mit den Leerstellen auf der Buchseite größte Aufmerksamkeit. Claude Royet-Journoud, Jean Daive und Anne-Marie Albiach sind die Hauptvertreter dieser Richtung. Sie sind von einem Dichter dazu ermuntert worden, der älter als sie ist, dessen Werk aber erst Mitte der siebziger Jahre allmählich Anerkennung gefunden hat. Ich spreche von Edmond Jabès. Sein dichterischer Weg hat seine Schüler zweifellos inspiriert, vor allem, als er das Folgende äußerte: „Was… den Wert eines Wortes ausmacht, ist nicht die Gewissheit, die es kennzeichnet, indem es sich behauptet, sondern gerade das Fehlen, der Abgrund, die Ungewissheit, gegen die es sich zur Wehr setzt.“

Die Literaturgeschichte ist häufig von Pendelbewegungen gekennzeichnet, deshalb wird es Sie vielleicht nicht überraschen, wenn ich sage, dass man ein paar Jahre später einer Rückkehr zu einer gewissen Lesbarkeit der Lyrik, einer traditionelleren Verskunst beizuwohnen schien. Man sprach von einer Wiedergeburt des Lyrischen. So widmete die Zeitschrift Oracl schon 1984 ein ganzes Heft der Frage: „Welche lyrische Dichtung?“ In einem 1988 von Philippe Delaveau herausgegebenen Buch La poésie française au tournant des années quatre-vingt (Die französische Dichtung an der Wende der achtziger Jahre), das die Dokumente eines zwei Jahre zuvor am Londoner Institut français abgehaltenen Kolloquiums sammelt, kann man folgende Feststellung lesen: „Nach dem fragmentarischen, dem ?lückenhaften? Wort scheint es, daß heute ein bescheideneres Wort erlaubt ist und dass ein neuer Gesang aufsteigt (…), ein Gesang, der sich so zu erkennen gibt: inneres Erbeben, Stilisierung eines bescheidenen, sich aber seiner Rechte bewussten Wortes (…) dessen Wunsch es sein könnte, den Menschen in seiner tiefen Realität auszudrücken: seiner Suche, die nie ein Ende finden kann.“ Die am häufigsten genannten Dichter, die diese Suche illustrieren sollen, sind Philippe Delaveau selbst, Gérard Rognet, der christliche Dichter Jean-Pierre Lemaire und in gewisser Weise auch Jean-Michel Maulpoix, der Herausgeber der Zeitschrift Le Nouveau Recueil. Jude Stéfan, einer der wichtigsten Dichter der Generation Déguys und Roubauds (er ist 1930 geboren) steht dieser Tendenz recht kritisch gegenüber. Er ironisiert die „ewigen alten Sentimentalen, die nur von ihren Emotionen faseln.“

Das Problem des Lyrischen steht jedoch weiter im Mittelpunkt vieler heutiger Diskussionen über die Dichtung. So hat Jean-Michel Maulpoix im Herbstheft 1999 seiner Zeitschrift Le Nouveau Recueil eine Gruppe von Beiträgen zum Thema der „kritischen Lyrik“ versammelt. Paul Louis Rossi bezweifelt, dass man sich vom Lyrischen befreien kann, und Alain Duault beschließt seinen Text mit den Worten: „Das Lyrische ist heute die große Ebbe und Flut der Welt.“

Selbstverständlich muss jeder Versuch einer chronologischen Darstellung summarisch bleiben, er birgt zudem das Risiko, dass die einzelnen Richtungen mit den Generationen verschmolzen werden. Außerdem verschweigt er die Tatsache, dass in den Jahren, über die ich berichte, große Dichter der vorangegangenen Generationen ihre Arbeit fortgeführt und die dichterische Landschaft Frankreichs mit ihren Spuren markiert haben. So muss man Namen wie den des 1982 verstorbenen Aragon erwähnen, Henri Michaux, der uns 1984 verließ, den 1988 gestorbenen René Char und Philippe Soupault , der 93 war, als er im Jahr 1990 verstarb. Und noch andere, deren Einfluss bestimmend war: Raymond Queneau, der 1976, Francis Ponge, der 1988 starb, Jean Tortel und André Frénaud, die beide 1993 von uns gegangen sind. Schließlich wollen wir, um dieses Mausoleum der verstorbenen Poeten nicht über Gebühr zu vergrößern, nur noch an den 1907 geborenen Dichter Guillevic erinnern, der bis zu seinen letzten Lebensstunden vor vier Jahren weitergeschrieben und publiziert hat.

Wenn die chronologische Annäherung vielfältige Probleme mit sich bringt, wäre eine thematische Anordnung noch stärker dem Zufall unterworfen.

Selbst wenn die Verlage aus vorwiegend kommerziellen Gründen weiterhin thematische Anthologien veröffentlichen (Natur, Kindheit, Liebe usw.), wäre es doch problematisch, eine solche Anordnung aufzugreifen, um die zeitgenössische Dichtung vorzustellen. Wie Jacques Roubaud einmal geschrieben hat, „spricht die Dichtung stets von etwas anderem, wenn sie von sich selbst spricht. Sie spricht stets von sich selbst, wenn sie von etwas anderem spricht.“ Ich will mich darauf beschränken, auf die Existenz einer Dichtung an der Wende der fünfziger und sechziger Jahre, besonders um die von Henri Deluy geleitete Zeitschrift action poétique hinzuweisen, die sich vor allem von der Empörung gegen den Algerienkieg nährte und die Einmischung in die Politik nicht ablehnte, wenn sie diese auch auf andere Weise in Angriff nahm als jene, die z.B.die Résistance-Dichtung und ihre wenig überzeugende Fortsetzung in den Jahren unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg charakterisiert hatte.

Wir wollen lieber ein „formales“ Inventar aufzustellen versuchen.

Namentlich in den sechziger und siebziger Jahren ist in Frankreich eine große Erneuerung der Dichtung zu beobachten. 1977 zählte Michel Deguy in einem Heft seiner Zeitschrift Po&Sie das auf, was sich seiner Meinung nach für die Dichtung verändert hatte: 1. das Wissen um das Verhältnis zur Sprache; 2. das Verhältnis zum Körper; 3. die Frage der Schreibweise; 4. das Wesen der Kultur („das Kulturelle ist zu einem Rätsel geworden. Allenthalben ist ein Verlust an Gewissheit aufgetreten.“).

Die von den Poeten in den letzten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts angestellten Überlegungen waren wie ihre Schreibpraxis von der formalen Suche, von Innovationen, aber auch von der Wiederentdeckung und Reaktivierung bestimmter Gedichtformen des nationalen oder ausländischen Erbes begleitet. Ich will versuchen, so etwas wie ein gezwungenermaßen fragmentarisch bleibendes Inventarverzeichnis dieses vielgestaltigen Schaffens aufzustellen:

1. Eine Richtung der Lautpoesie beziehungsweise der Oralität, die lange Zeit eine Randexistenz führte, doch seit einigen Jahren an Umfang gewonnen hat, wo einige bemerkenswerte Autoren anzutreffen sind wie z.B. Val?re Novarina oder Bernard Heidsieck. Dieser bedient sich der Montage auf Tonband und überträgt und potenziert die Ebenen des dichterischen Wortes im Klangraum der Bühne und während der Performance. Das Interesse an der Performance teilen übrigens auch andere Lyriker, die sich dieser Richtung aber nicht ausschließlich verschrieben haben. In neuerer Zeit setzen die Dichterin und Sinologin Michèle Métail und der Dichter und Musiker Jacques Rebotier diese Richtung fort und bereichern sie. In der Performance werden der Körper, die Stimme zum Vektor einer poetischen Arbeit, die sich in systematischen, formalen oder spielerischen Varianten differenziert. Diese Lyrik ist dazu bestimmt, andere Träger als das Buch einzusetzen: die Platte, das Tonband, das Video, die CD-ROM, das Internet. Man kann sogar vom Erscheinen eines neuen literarischen Phänomens sprechen, das man elektronische Dichtung, numerische Poesie, digitale Poesie, Cyberpoesie, Computerpoesie nennen könnte.

2. Die Spannung oder wechselseitige Entsprechung zwischen Vers und Prosa im Gedichtband, zum Beispiel bei Michel Deguy, der auch Philosoph ist und dessen Schreibweise gleichzeitig rapide und dicht ist, wobei sie in erstaunlicher Weise Bilder der modernen Welt mit gelehrten Bezügen kombiniert. Bei Dichtern der jüngeren Generationen scheint die Lyrik schon jede metrische Spezifik eingebüßt zu haben, dies ist bei Pierre Alféri der Fall, der Montagen, Ausschnitte, Sequenzen aufgreift, die der Prosa der Alltagswelt entnommen sind, welche den Vers verschlingt oder kontaminiert, um einen Ausdruck Dominique Fourcades aufzugreifen. Die dichterische Arbeit Fourcades ist eine offene Kampfansage an die festen Formen des Denkens, der Fiktion und der Dichtung. Es sind Texte, die sich als Gedichte lesen lassen, sich aber als ?nicht identifizierte Vorrichtungen? präsentieren.

3. Auf weniger polemische Weise als einst Francis Ponge haben sich manche Dichter für das Prosagedicht entschieden. Dies betrifft Gil Jouanard in der Tradition Jean Follains, mitunter aber auch Jacques Réda, z.B. in seinem Buch Les ruines de Paris von 1977. Doch in mehreren anderen Lyrikbänden verwendet Jacques Réda, der sich 1968 mit der Veröffentlichung von Amen als einer unserer bedeutendsten Dichter erwiesen hat, feste Formen wie das Sonett in gereimten Versen, einen vierzehnsilbigen Vers oder den klassischen Alexandriner, der bei ihm dank der Geschmeidigkeit des Versaufbaus und des Zuschnitts wie auch dank der ironischen Distanz wieder eine erstaunliche Ungezwungenheit aufweist. Hier soll als Beispiel für diese Leistung ein der Lyriksammlung La Course entnommenes Gedicht stehen:

Jeden Tag steige ich zwei oder drei Stufen hinab
Die immer weiter zu immer mehr Schatten abgleiten.
Der Strick der mich noch fesselt, kann reißen
Von einer Minute zur andern und mich in den geflammten

Gründen der Finsternisse und Blitze an eine Bewehrung
Von Eisen oder von Unrat stürzen lassen. O verdammte
Namen ich rufe euch an mit den Gemeuchelten
Die mir vorausgingen, doch meine Stimme

Dringt an kein Ohr, trifft nichts, nicht einmal ein Echo.
Ich weiß jedoch, dass mich unten abstoßend, possenhaft
Die Wirtin der Absteige erwartet, der jeder den fetten Anteil

An der Zeche in Naturalien schuldet. Da ist das Telefon,
wird sie sagen, du kannst deine Mama anrufen,
Ohne Münze – aber die Leitung ist ständig
Gestört.

4. Die Wiedereinsetzung älterer Formen, beispielsweise der Sextine, der Pierre Lartigue eine schöne Anthologie mit dem Titel L’Hélice d’écrire gewidmet hat. In der Ende 2000 veröffentlichten, nicht weniger schönen Sammlung La Forge subtile verwendet Pierre Lartigue diese Gedichtform selbst.

5. Die Benutzung von Techniken der Collage, der Montage, des Ausschnitts. Paul Louis Rossi, der 1995 den Prix Mallarmé erhielt, greift in mehreren seiner Bände erfolgreich auf diese Techniken zurück, so z.B. in Cose naturali. Paul Louis Rossi hat vor kurzem bei Flammarion einen interessanten Essay mit dem Titel Les gémissements du siècle veröffentlicht, in dem sein Weg durch die zeitgenössische Dichtung dargestellt ist.

6. Die Schreibweise eines ganzen Bandes als Ausdruck eines Zwanges, der eine neue Form schafft. So komponiert Jacques Roubaud in dem Band Trente-et-un au cube 31 Gedichte mit je 31 Versen, von denen jeder 31 Silben zählt. Jacques Roubaud, ein Dichter und Mathematiker, ist einer der Initiatoren des OULIPO, Ouvroir de littérature potentielle (Werkstatt für potentielle Literatur), das 1960 von von Francois Le Lionnais und Raymond Queneau begründet worden war und zu dem Georges Pérec und Italo Calvino gehörten. Von seinen neueren Autoren möchte ich auf die Dichterin Michelle Grangaud hinweisen, die in ihren anagrammatische Gedichte versammelnden Bänden Stations und Memento fragments die Annahme bestätigt, dass ein formaler Zwang keineswegs inkompatibel mit der dichterischen Emotion ist.

7. Die bedeutende Rolle der Zwischenräume und Leerstellen in den Texten von André du Bouchet, Alain Veinstein , Claude Royet-Journaud oder Anne-Marie Albiach. Diese Poeten hat man vor allem in den Publikationen des von Emmanuel Hocquard geleiteten Verlages Orange Export LTD wiedergefunden.

8. Die Verwendung ausländischer Gedichtformen wie des Haiku oder des Renga. Der Renga ist ja eine japanische Gedichtform , die kollektiv geschrieben werden muß. 1971 erschien ein Buch mit dem Titel Renga, das von Jacques Roubaud, Eduardo Sanguineti, Charles Tomlinson und Octavio Paz gemeinsam geschrieben wurde. Der Letztgenannte rechtfertigt im Vorwort zu dem Band die Wahl dieser Gedichtform wegen ihres kombinatorischen Elements (eines Hilfsmittels, das schon von dem von Raymond Queneau begründeten OULIPO eingesetzt worden war) und wegen seines Charakters des kollektiven Spiels, das der Krise des Autorenbegriffes, einem Aspekt der Moderne, entspricht.All dies wird von einer umfangreichen Übersetzungstätigkeit begleitet.

Die von intensivem dichterischem Schaffen gekennzeichneten letzten drei Jahrzehnte hatten auch die Entwicklung einer bedeutenden Übersetzungstätigkeit auf dem Gebiet der fremdsprachigen Lyrik zu verzeichnen. Dieses Faktum verdient es, dass man ein wenig bei ihm verweilt, zunächst wegen der großen Anzahl und der hohen Qualität der Übertragungen und dann auch, weil sie etwas Neues in Frankreich darstellten, einem Land, in dem Lyrikübersetzungen trotz einiger glänzender Ausnahmen wie im Falle Baudelaires und Mallarmés im Wesentlichen den Hochschullehrern vorbehalten blieben.

Und wenn einmal Dichter übersetzten, geschah es häufig nach dem Prinzip der „treulosen Schönen“, das heißt, sie nahmen sich große Freiheiten gegenüber dem Original heraus, mit der Begründung, die französische Fassung müsse vor allem im Ohr des Franzosen gut klingen. Diese Haltung, auf die sich noch zu Beginn der vierziger Jahre ein Autor wie Arthur Adamov berief, als er eine Übertragung von Rainer Maria Rilkes Buch von der Armut und vom Tode (dem dritten Teil des Stunden-Buches) vornahm, hat heute an Terrain verloren. Wie ist diese Veränderung zu erklären? Zweifellos durch das Zurückweichen des Ethnozentrismus. Die Welt hat sich verändert, die großen Nationen sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Und die Dichter stellen sich Fragen nach der Sprache und nach der Schreibweise. Eine Sprache ist nie allein, sie steht im Dialog mit denen, die im Raum oder in der Zeit an sie grenzen. Von einer Sprache zur anderen zu wechseln, sich der „Probe des Fremden“ auszusetzen, die eine Übersetzung darstellt, um eine glückliche Formulierung Antoine Bermans aufzugreifen, führt zu einer genaueren Kenntnis des eigenen sprachlichen Ausdrucks. Henri Meschonnic, ein Dichter, Verfasser von Essays über Poetik und gleichzeitig Bibelübersetzer, hat geschrieben:

„Die Übersetzung ist eine dichterische Stilfigur in ihrem Verhältnis zu einer spezifischen Sprache und Kultur. Deshalb ist die Übersetzung von Bedeutung für die Dichtung und die Theorie: Sie schafft eine experimentelle Poetik.“

Vielleicht können Sie die Bedeutung dieser Übersetzertätigkeit bei den Dichtern unserer Zeit ermessen, wenn ich eine Liste aufstelle, die keineswegs vollständig ist:

– Guillevic, der Heine und Trakl übersetzt
– Yves Bonnefoy, der Shakespeare übersetzt
– Philippe Jacottet, der Rilke und Hölderlin übersetzt
– André du Bouchet, der Paul Celan übersetzt
– Denis Roche, der Ezra Pound übersetzt
– Dominique Grandmont, der Yannis Ritsos, Konstantin Kavafis und Vladimir Holan übersetzt
– Jacques Roubaud, der Reznikov übersetzt
– Martine Broda, die Nelly Sachs und Paul Celan übersetzt
– Claude Esteban, der Quevedo, Octavio Paz und die Gedichte von Borges übersetzt
– Maurice Regnaut, der Rilke, Brecht, Enzensberger übersetzt
– Henri Deluy, der die tschechischen und niederländischen Dichter sowie Pessoa und Zwetajewa übersetzt

Man sollte in diesem Kontext auf die Bedeutung der seit fünfzehn Jahren vom Zentrum für poetische Übersetzung in Royaumont bei Paris geleisteten Arbeit hinweisen, wo unter der Leitung von Rémy Hourcade und von Dichtern wie Bernard Noël, dessen Werk einen hervorragenden Platz in der französischen Lyrik der letzten Jahrzehnte einnimmt, und Claude Esteban kollektive Übersetzungen mehrerer Dutzend eingeladener ausländischer Dichter angefertigt worden sind. Eine umfangreiche, vor einem Jahr erschienene Sammlung legt Zeugnis von dieser wertvollen Tätigkeit ab.

Während ich mich allmählich dem Ende meines Vortrags nähere, stelle ich fest, dass ich Ihnen eine Reihe wichtiger Protagonisten der gegenwärtigen Dichtung Frankreichs nicht genannt habe. Das ließ sich nicht vermeiden. Es liegt mir daran, dennoch einige wichtige Namen wie Mathieu Benezet, Dominique Fourcade oder auch Jacques Darras zu erwähnen, den Herausgeber der Zeitschrift In’hui, der mit Humor das Erzählgedicht erneuert, dessen Umfang an den großen Atem Claudels erinnert. Ich nenne auch den 1945 geborenen Christian Prigent, Begründer der Zeitschrift TXT, den man zu den Rebellen und Irregulären in der Tradition Antonin Artauds zählen könnte und der vor einigen Jahren in seiner Antwort auf die Umfrage „Wozu Dichter in dürftiger Zeit?“ seine Position so zusammengefasst hat: „Ich schreibe weder für-wen noch für-was, noch wozu, sondern weil, quia; aufs quia reduziert durch den Druck des lebenden (kranken) Körpers, gegen die schreckliche Gesundheit der Sprache-der-andern (der stereotype und stereotypierte Diskurs, der dem Körper absolut unangemessen ist).“ Und wie könnte ich den 1936 geborenen Franck Venaille vergessen, dessen umfangreiche Anthologie seiner Gedichte der Jahre 1966-1997 Capitaine de l’angoisse mit dem Prix Mallarmé ausgezeichnet wurde?

Mathieu Messagier verdient gleichfalls besondere Erwähnung. Er war 1971 der Anstifter des Manifeste électrique aux paupières de jupe, eines programmatischen Textes, in dem sich surrealistische Töne wiederfanden, die vom Klima der Zeit nach dem Mai 68 und der Begeisterung für die Rockmusik beeinflusst waren. Wenn diese Richtung meiner Ansicht nach auch nicht von der Bedeutung war, die ihr Bernard Delvaille in seiner 1971 bei Seghers veröffentlichten modisch-subjektiven Anthologie La nouvelle poésie francaise zuerkannte, „schlägt“ die verwirrende Schreibweise Matthieu Messagiers doch irgendwie „ein“, und seine beiden, letztes Jahr bei Flammarion erschienenen Bücher machen uns die Kraft und Originalität des 1949 geborenen Autors von neuem bewusst, der seit seiner frühen Jugend ein absolut originelles Werk vorgelegt hat.

Im letzten Jahrzehnt sind neue Dichter ans Licht getreten, deren Sprache häufig dem Spielerischen, der Parodie, dem Spott, der Montage den Vorrang einräumt. Das Erscheinen von Olivier Cadiots Buch L’art poetic im Jahr 1988 eröffnet diese Richtung, zu der man den schon erwähnten Pierre Alféri, Nathalie Quintane, Christophe Tarkos, der sich selbst als „Fabrikant von Gedichten und Lektüren durch Improvisation“ bezeichnet, oder auch Jean-Michel Espitallier zählen könnte. Dieser, der die Zeitschrift Java herausgibt, hat im vergangenen Jahr auch eine Anthologie der französischen Dichtung von heute mit dem Titel Pièces détachées veröffentlicht, in der man sowohl anerkannte Dichter wie Roubaud, Rossi, Deluy, Stéfan wie auch die zuvor genannten jüngeren antrifft, und übrigens auch den 1963 geborenen Philippe Beck, den Herausgeber der Zeitschrift Quaderno, der schon an die zehn Lyrikbände publiziert hat.

Sie haben vielleicht bemerkt, dass ich in meiner Darstellung bisher kaum eine Dichterin erwähnt habe. Das liegt daran, dass sich die Schriftstellerinnen in dem Zeitabschnitt, der uns hier interessiert, vor allem auf dem Gebiet des Romans, der Erzählung oder des Essays behauptet haben.Und das Hervortreten zahlreicher Dichterinnen ist ein relativ neues Phänomen. Besonders in den letzten zehn Jahren waren mehrere bedeutende Werke begrüßen, die von Autorinnen wie Katalin Molnar, Anne Portugal, Fabienne Courtade, Marie Etienne, Esther Tellerman, Josée Lapeyrère, Michèle Métail oder Michelle Grangaud verfasst wurden. Ich lese Ihnen ein kurzes Gedicht von Michelle Grangaud vor, das 1987 in Memento fragments erschienen ist, einem Buch, das anagrammatische Gedichte versammelt und gleichzeitig mit intertextuellen Bezügen spielt. Der Titel ist der erste Vers eines sehr bekannten Gedichtes von Apollinaire.

Sous le pont Mirabeau coule la Seine

Sirène si cool sa lune palmée au bout
L’eau, plombes noires, a secoué la nuit,
Etés marins, on l’a beaucoup souillée
Coule-la mort à peau si sensible noue
La clé abîmée sous la porte, ou un sein.
Saoule, saoule, son bruit, pâme ce lien
Lou, Paname bruine tuile cassée solo
A l’eau animée où s’oublient les corps,
A l’eau épousée, micas en tourbillons

Man könnte die These aufstellen, die Dichtung Frankreichs befände sich heute in einer paradoxen Situation: oftmals beschuldigt, dass sie formalistisch, experimentell, dunkel sei („contemporary french poetry is difficult“, hat der englische Dichter Stephen Romer geäußert), wird sie relativ selten gelesen, aber sie erfreut sich dennoch eines recht angesehenen Status und hat, wie ich Ihnen einzureden versucht habe, in den letzten Jahrzehnten eine bemerkenswerte Vitalität mit einer großen Vielfalt und Fähigkeit zur Erneuerung bewiesen. Auf einer Zusammenkunft, die 1997 in Chedigny der französischen Dichtung von heute gewidmet war, wies Jacques Roubaud das Argument der Schwierigkeit zurück, das zur Erklärung ihrer geringen Resonanz bei den Lesern geltend gemacht wurde. Ich zitiere: „nicht die Dichtung der Gegenwart ist schwierig, der gegenwärtige Zustand der Dinge ist die Ursache für die Schwierigkeit der Dichtung. Es gibt heute innerhalb einer großen Vielfalt dichterischer Stimmen Poeten, die schwierig schreiben (für das unmittelbare Verständnis) und andere, die das nicht tun. Letztere haben nicht viel mehr Leser als die erstgenannten. Das Argument der Schwierigkeit wird dem Problem nicht gerecht. Ich möchte auch sagen, dass die Schwierigkeit, ein Gedicht zu verstehen, umso größer ist, je weniger man davon liest oder gelesen oder verstanden hat. Legen Sie sich für drei Monate ins Bett, und Sie werden sehen, dass Ihnen das Gehen schwer fällt. Das lyrische Gedächtnis muss trainiert werden.“

Von der Feststellung ausgehend, die Dichtung in Frankreich finde in unserer Zeit keine Zuhörerschaft mehr, die jener vergleichbar sei, die sie hatte, als das Land von den Nazis okkupiert war und als sich zahlreiche bedeutende Dichter in der Résistance engagierten, fragte die Zeitschrift Le Débat vor einigen Jahren, ob daraus auf eine „Abwesenheit der Dichtung“ zu schließen sei, und befragte einige Dichter zu diesem Punkt. Jacques Roubaud, um ihn noch einmal zu zitieren, hat mit diesen Worten geantwortet:

„Die Feststellung der Abwesenheit der Dichtung ist häufig getroffen worden, man kann sie gar nicht mehr treffen; man könnte sagen, dass sie schon einen größeren Raum einnimmt als die Dichtung selbst. Aber wo? Das ist die Frage: die Abwesenheit der Dichtung wird vor allem in der Öffentlichkeit konstatiert, in dem, was man die Medien nennt, in den politischen Debatten oder denen der „Gesellschaft“, bei den großen Verlagen, auf den Absatzmärkten der Bücher, in den Lektüregewohnheiten der Bewohner dieses Landes usw.; das Schweigen der Dichtung in der guten Gesellschaft ist offensichtlich. Nicht alles an dieser Situation ist zu bedauern, man soll die Dichtung nicht nach ihrer Meinung zur politischen oder wirtschaftlichen Lage des Landes befragen, man soll nicht im Fernsehen oder an anderer Stelle an sie appellieren.(…) Ja, die Dichtung hat sich unter bestimmten Umständen großer Gunst erfreut, doch diese Gunst hatte nur wenig mit der Dichtung selbst zu tun. Es handelte sich in allen diesen Fällen um Situationen, in denen die üblichen Mittel der freien Äußerung versperrt waren und die Dichtung die Aufgabe übernahm zu sagen, was auf andere Weise nicht gesagt werden konnte. Die Gunst der Dichtung war unauflöslich mit dem Unglück der Völker verknüpft. Wir wollen wünschen, dass es für uns nie wieder so sein wird.“

Yves Bonnefoy erweiterte diese Überlegung in seiner Antwort auf die Umfrage der Zeitschrift Le Débat mit folgenden Worten: „Es ist möglich, dass es für die Dichtung keine andere Zukunft geben wird als in der Entbehrung, die durch irgendeine Katastrophe hervorgerufen würde (…). Bei zerbrochener, verrosteter Maschine, erloschenem Bildschirm, neu aufsprießendem ewigem Gras, vielleicht in den Trümmern eines Werbetextes; und irgendwo in der Ferne, dort, wo Lebewesen überlebt haben, das kleine Flötenlied von etwas Hoffnung, die endlich aufkeimt (…) Dichterisch auf der Erde zu leben setzt voraus, dass zunächst die Erde am Leben bleibt.“

Und der Lyriker Jacques Dupin erkennt der Dichtung eine Mission des Widerstandes zu. Kürzlich hat er erklärt: „Es gibt heute zahlreiche Dichter, die schreiben und publizieren. Und wenige Buchhändler, die sie verkaufen. Die Zahl der Leser ist nicht von Belang, die Dichtung ist kein Konsumartikel. Sie ist eine Gegen-Kraft, eine rebellische Stimme, eine subversive Energie, die sich per definitionem nicht auf eine Institution zu bewegt.“

Schließen wir unsere Darlegungen fürs erste mit einer von Jean-Michel Maulpoix vorgeschlagenen Definition: „Dichtung, das unsichtbare Herz der Literatur, dessen verborgener Schlag bewirkt, dass sie noch existiert.“

Der Autor Alain Lance:

– Geboren 1939 bei Rouen/Frankreich
– Studierte in den 60er Jahren an der Leipziger Uni bei Hans Mayer mehrere Semester Germanistik, seitdem zahlreiche Aufenthalte in Leipzig, Vorträge und Lesungen an der Uni und im Institut Français
– In den 80er und 90er Jahren Direktor der Instituts Français von Berlin (Ost), Saarbrücken und Frankfurt/Main. Gegenwärtig Direktor des Pariser Maison des Ecrivains .
– Zahlreiche Lyrikbände. Herausgabe französischer Lyrik in Deutschland. Übersetzer der Werke von Christa Wolf in Frankreich.
– Eine zweisprachige Gedichtauswahl von Alain Lance erschien 1994 bei der Edition Karlsberg, Homburg/Saar unter dem Titel ?Und wünschte kein Ende dem Anfang“.

Der vorliegende Vortrag, der über die neuesten Strömungen der französischen Dichtung informiert, wurde im Oktober 2001 während der Buchmesse am Frankfurter Institut Français gehalten.


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