Pegasus vorn, Apollo hinten, den Stein in der Tasche

Ulla Hahn liest zur Buchmesse

Das Leipziger Publikum ist treu: ca. hundertfünfzig Zuhörer haben sich im Oberlichtsaal eingefunden, Vierzig- bis Sechzigjährige vor allem, auch erstaunlich viele vereinzelte Männer. Pünktlich auf die Minute beginnt Ulla Hahn (Jahrgang 1946) mit der Vorstellung ihres im August letzten Jahres bei DVA erschienenen Romans. Es gehe um sechzehn Jahre des Mädchens Hildegard, das im Rheinland der Nachkriegszeit in ärmlichen, streng katholischen Verhältnissen aufwachse und den Katholizismus als Korsett spüre. Dialoge seien häufig im Dialekt wiedergegeben, doch die Leipziger könnten beruhigt sein: „Sie hören sich genau so gut in die Sprache ein wie ich mich ins Sächsische.“

Mit angenehm heller Stimme liest sie einen ersten Auszug aus dem fast sechshundertseitigen Text. Die Leute hören aufmerksam zu, schmunzeln ab und an bei einer mundartlichen Wendung oder einem amüsanten Detail aus der Welt der fünfjährigen eigenwilligen Hildegard, in vielen Gesichtern aber herrscht Reserviertheit. Die Ich-Erzählung aus der Perspektive des Kindes mit „Krippchen“ und „Glöckchen“ ist gefällig geschrieben, der Ton ähnelt gelegentlich dem von Astrid Lindgren in „Immer dieser Michel“, vor allem auch, als im nächsten Textauszug aus der Sicht der Neunzehnjährigen über das Fest der heiligen Kommunion berichtet wird („Sie waren alle gekommen?“, worauf sich dann Aufzählungen und Beschreibungen der verschiedenen wunderlichen Tante Lisas und Onkel Adolfs, ihrer Kleidung, Eß- und Lebensgewohnheiten usw. anschließen). Doch wollen sich bei aller Ausführlichkeit weder atmosphärische Dichte noch echte Vergnüglichkeit einstellen.

Wobei es durchaus gelungene Textstellen gibt. Etwa, als Hildegard ein Geschenk auspackt, ein feines Lederetui, an dem die junge Frau zum Unwillen der versammelten neugierigen Familie zuerst ausgiebig riecht und das sich dann als Scherentasche erweist („Das ist ein Necessaire.“ / „Und so erfuhr ich, daß jeder Mensch ein Nagelhäutchen hat, das es zu kappen gilt.“). Zu selten allerdings schimmert lakonische Ironie dieser Art durch oder passiert etwas, was man nicht schon irgendwo so gelesen oder gehört glaubt; zu nahe an der Schablone wird erzählt.

Dabei würde man dem Text Unrecht tun, wenn man ihm inhaltliche Mattheit vorwerfen wollte. Konfliktpotential und authentisches Erinnerungsmaterial gibt es genug: ein Kind, das sich den Eltern entfremdet, soziale Unterschiede, die sich auch in der Sprache manifestieren und und und Nur ist man nach der Lesung versucht, das auf Adenauer gemünzte Zitat aus dem Roman: „Was immer er sagte, klang harmlos und gemütlich.“ auf das Gehörte selbst zu übertragen.

Wir hätten sicher wahrgenommen, daß der Roman einer voller einzelner Geschichten sei, bemerkt der Moderator nach der Lesung, und sicher hätten wir auch Fragen an Ulla Hahn, noch nämlich sei „Leipzig liest“ jung und unverbraucht. Nein, es gibt keine Fragen. – Und es gibt natürlich doch Fragen, später, am Signiertisch. Die nach dem Titel „Das verborgene Wort“ oder der Erzählperspektive zum Beispiel. Charmant und nachdenklich antwortet die schmale Autorin im grünlichen Rollkragenpullover. Es gebe zwei Hauptfiguren im Text: das Mädchen und die Sprache. Es sei ja eine spezielle Kindheit, aber jeder könne sich anhand dieser Kindheit die eigene wieder zurückholen. Sie sehe auch die große Schwierigkeit, aus der Perspektive des Kindes zu schreiben, andererseits komme es ihr gerade darauf an, da die wesentliche Prägung eines Menschen früh passiere, sie habe Empfindungen beschreiben wollen, die der Erfahrung adäquat sind, und so weiter.

Ob das auf der Münze, die sie um den Hals trägt, Pegasus sei? – Ja, Pegasus, der begleite sie immer, auf der Rückseite sei Apollo. Sie dreht die Münze. – Aber der sei ja falsch rum, der Kopf hänge nach unten! – Ja, falsch rum, nur habe sie sich entscheiden müssen, für Pegasus. Sie lacht jugendlich. Und dann sei da noch der Stein von der Insel Lesbos, den ihr eine Leserin geschenkt habe. Den habe sie zu allen wichtigen Ereignissen dabei. Er sei fast so schwer wie ihr Buch. Und schon holt sie den Stein hervor und erlaubt, ihn in der Hand zu wägen. Ihr offenes frisches Wesen bestimmt den Heimweg.

Ulla Hahn: Das verborgene Wort
20. März 2002, Stadtbibliothek

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