Freiheit in der Wandelhalle des Todes

Jorge Semprum liest bei der Buchmesse

Das vom Verlagsleiter Suhrkamp Frankfurt bemühte Wittgenstein-Zitat, worüber man nicht sprechen könne, müsse man schweigen, schien weniger gut auf Jorge Sempruns Situation zu passen, der erst spät zu schreiben begonnen hatte, da zwei Jahre im KZ Buchenwald anfangs eher Verdrängung als Aufarbeitung erfordert hatten. Das erwähnte Zitat aus dem „Tractatus“ ist ja eher als Sprachverbot für nicht in einem logischen System erfaßbare Aussagen zu verstehen. Doch ging es bei Semprun nicht um eine prinzipielle Unfähigkeit, über diese Zeit zu schreiben, sondern um die Entscheidung „Schreiben oder Leben“, wie der Titel eines später entstandenen Buches lautet. Aus dem nun vorliegenden Band „Der Tote mit meinem Namen“ las Semprun auf deutsch eine knappe Stunde, wobei die ausgewählte Stelle auch Bezüge zu Ostdeutschland erkennen lassen sollte.

Der Autor spanischer Herkunft, der seine Bücher auf französisch schreibt, besticht durch seine collagenartige Technik, die Ereignisse aus den verschiedensten Zeiten seines ereignisreichen Lebens nicht chronologisch, sondern assoziativ miteinander verbindet. Dabei ist seine Sprache eine poetische, die sich vor Lyrismen nicht scheut, mitunter aber auf einer Metaebene sich selbst kommentiert. Wie etwa, wenn erklärt wird, wann der Name einer realen Person abgeändert wurde, da sie in der Verarbeitung des Autors nun eine bestimmte narrative Funktion erfüllt. Denn was erzählt wird, ist keine platte Autobiographie, sondern verleiht dem beschriebenen Leben eine zusätzliche, schicksalhafte Dimension. Die unverständlichen letzten Worte eines im Lager verstorbenen Freundes werden mehr als fünf Jahrzehnte später bei einer Übersetzungsarbeit durch Zufall entschlüsselt. Der Trompetenspieler der illegalen Jam-Sessions an Sonntagnachmittagen im Lager berichtet ihm 25 Jahre später in einem Prager Jazzclub vom Schicksal zweier von Stalin – wegen ihrer eigenständigen Arbeit im spanischen Widerstand – verfolgter kommunistischer deutscher Mitgefangener. (Ein ironisch gemeintes „Rot Front“ beim Zuprosten stößt während des Prager Frühlings auf Empörung am Nachbartisch.) Immer wieder kreisen die Erinnerungen um Buchenwald, wo ein Überleben nicht zuletzt durch die Präsenz von Poesie und Literatur, durch auswendig zitierte Gedichte, Diskussionen über Philosophen wie Merleau-Ponty, Schriftsteller wie Camus, Giraudoux oder Faulkner möglich war, wo zusammen mit den engsten Freunden eine Welt höchsten intellektuellen Anspruchs aufrechterhalten wurde.

Die spannende Lesung im vollen Oberlichtsaal der Stadbibliothek kam zu einem jähen Ende, als angekündigt wurde, man könne jetzt seine Bücher signieren lassen. Fragen an den Autor waren nicht eingeplant.

Jorge Semprun: Der Tote mit meinem Namen
21. März 2002, Stadtbibliothek

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