Vorspiel in Leipzig

Vladimir Sorokin liest bei der Buchmesse

Der geneigte Freund und Liebhaber russischer Gegenwartsliteratur konnte in den vergangenen Monaten über die deutschen Feuilletons mit Erschrecken eine Debatte verfolgen, die in ihrem Tonfall und dem Stil der vorgebrachten Argumente an längst vergangen geglaubte Zeiten der Zensur von Kunst und Literatur in totalitären Staatssystemen erinnerte. Das moderne Rußland scheint mit seinen großen Dichtern zu brechen. Vladimir Sorokin, der vielleicht größte, in jedem Fall aber bekannteste rezente russische Romancier, war einer der unfreiwilligen Protagonisten einer Kampagne, die sich literarischen Inhalten entzog und statt dessen auf persönliche Diffamierungen setzte. Der Vorwurf einiger erzkonservativer Kritiker und politischer Amtsträger, Sorokin und sein im Westen ebenfalls bekannter und geschätzter Schriftstellerkollege Viktor Pelewin seien als Schriftsteller verantwortlich für eine zunehmende moralische Zersetzung des Landes, die Verführung der Jugend und eine um sich greifende Libertinage, ist haltlos und grotesk und sorgte trotzdem nicht nur in der russischen Heimat für einiges Aufsehen. Dies vor allem, da einige der Regierung Putin nahestehende Organisationen das Werk Sorokins als „obszön“ bezeichneten und öffentlich das Verbot bzw. die Verbrennung seiner Bücher forderten.

Vor diesem Hintergrund fand nun auch die Lesung im Leipziger Café Küf statt, die Sorokin und sein Verlag dazu nutzen wollten, ein neues Manuskript des Autors vorzustellen, das der Schar reaktionärer Kritiker wohl wiederum die Zornesröte ins Gesicht treiben wird. So brachte Sorokin seinen Freund und Verleger Alexander Ivanov mit zur Lesung, und auch der deutsche Verleger war anwesend, um vorab eine kurze Lobrede auf den „Star“ der russischen Literaturszene zu halten. Immerhin hat sich Sorokin auch in deutscher Übersetzung mit seinen Romanen „Norma“ und „Der himmelblaue Speck“ (beide erschienen bei Dumont-Literaturverlag, Köln, 1999 und 2000) bereits als feste Größe etabliert. Vor allem die Freude und Lust am Experimentieren mit Sprache zeichnete diese beiden ersten Werke aus, und deshalb warnte Sorokin das Leipziger Publikum, bevor er einige Auszüge aus seinem neuen Werk präsentierte, diese neue Arbeit sei, zumindest was die Sprache betreffe, wesentlich konventioneller ausgefallen als seine früheren Erzählwerke.

„Der Eros von Moskau“ ist ein längerer Essay, in dem Sorokin versucht, sieben „erogene Zonen“ seiner Heimatstadt nachzuzeichnen. Er legt dabei Wert darauf, daß die Stationen seines Essays ausnahmslos Zonen des alten, d.h. des spätkommunistischen Moskaus sind. Das Moskau nach 1990, so Sorokin, besitze keine ausgeprägte Erotik mehr. Die Stationen seines erotischen Moskau-Führers sind demnach Plätze, die keine inhärente Erotik besitzen; die Lust stellt sich nur bei den Besuchern der Orte ein, die eine allgemeine Neigung zum Triebhaften besitzen. Sorokin beschreibt ganz gewöhnliche Orte wie einen Friedhof, eine Metro-Station oder einen Marktplatz, und jeder Besuch endet mit einem Orgasmus des Erlebens, eines Eintauchens in den Ort und seine Geschichte, seine Bauweise und damit seine „libidinöse Struktur“, wie der Autor es nennt. Beileibe nicht jede Stadt, vermerkt der vielgereiste Sorokin, könne solche erogenen Zonen aufweisen. Über Tokio, wo er zwei Jahre lebte, vermag er nichts dergleichen zu berichten, auch Berlin, St. Petersburg oder Paris hätten ihn nur unzureichend sexuell stimuliert. Im libidinösen Städtevergleich siegt Moskau, denn Moskau ist laut Sorokin wie „eine riesige Frau“, hat ein Geschlecht und stellt es auf ganz und gar erotisierende Weise zur Schau, während andere Metropolen schlichtweg den Eindruck hinterlassen, sie seien frigide. Der mit Sorokins Werk vertraute Leser fühlt sich bei diesen Passagen an den Film „Moskva“ erinnert, eine poetisch-erotische Großstadtparabel, für die Sorokin vor zwei Jahren das Drehbuch verfaßte. Sein neues Werk darf durchaus im Kontext dieses vielgelobten Films gelesen werden.

Bevor es aber hoffentlich recht bald auch in deutscher Übersetzung erscheinen wird, müssen sich die Besucher der Lesung mit den Passagen zufriedengeben, die Sorokin seinem Publikum präsentiert. Und das sind nicht gerade viele. Nach ca. 15 Minuten hat der Autor, der schon bei der Vorstellung durch den Verleger seltsam indisponiert wirkte, sein Lesepensum erschöpft. Die anschließend vorgetragene deutschsprachige Fassung sorgt unter den Anwesenden für einiges Schmunzeln, was einerseits als Bestätigung für Sorokins Vermögen, das Tragische in seinen Werken immer mit einer spielerisch-heiteren Note zu durchsetzen, angesehen werden darf, andererseits aber an diesem Abend den anwesenden Autor nachdrücklich zu verunsichern scheint. Dabei sei ihm versichert, daß zumindest das Gehörte Anlaß dazu gibt, dieses neue Essay als weiteren gelungenen Wurf in seinem Oeuvre zu feiern. Die Metapher des Erotischen ist sicherlich seit jeher fester Bestandteil der Prosa Sorokins, und doch wirkte sie noch nie so pointiert wie in diesem essayistischen Stück Prosa.

Der Autor indes scheint an diesem Abend entweder nicht von der Ausdruckskraft seiner Texte überzeugt oder aber einfach desinteressiert zu sein. Die Publikumsfragen im Anschluß an die Lesung eröffnen noch einmal die Möglichkeit, den Autor nach seinem Verhältnis zur konservativen Kritik zu befragen. Vor allem in Hinsicht auf sein neues Werk wird Sorokin wohl damit rechnen müssen, erneute Anfeindungen zu erleben, die ihn als „pornographischen Psychopathen“ denunzieren und in ihm und seinem Werk Vorboten einer westlich-degenerierten neuen Generation von Dichtern heraufziehen sehen. Sorokin gibt sich ob solcher Fragen seltsam einsilbig und überläßt lieber seinem Verleger das Wort. Dieser versucht die Ressentiments gegen die Werke seines Freundes dadurch zu erklären, daß Sorokin sich als Autor keiner der großen russischen Literaturtraditionen verpflichtet fühle, also weder im Geiste eines „neuen“ sozialistischen Realismus noch einer epischen Nationalliteratur á la Dostojevskij oder Tolstoi schreibe. Dennoch, so betont Ivanov, sei es dem Romancier Sorokin darum bestellt, aus „Haß zur Literatur“ zu schreiben und dabei vor allem die Formen von Literatur abzulehnen, die sich absichtlich einer realistischen Darstellung des Alltagslebens in Rußland verschließen würden. Also doch eine Nähe zur Literatur des sozialistischen Realismus? Ja und Nein. Zu guter Letzt ergreift noch einmal Sorokin das Wort und erklärt, er fühle sich in erster Linie der literarischen Tradition verpflichtet, über Rußland zu schreiben, seine Heimat. Er liebe den Schnee, sagt Sorokin, und nirgendwo anders auf der Welt gebe es soviel Schnee wie in Rußland. Und er liebe den Raum, die Weite, fügt er hinzu, und das Gefühl in einer menschenleeren Weite schreiben zu können, inspiriere ihn ungemein. Dies sagt er mit einem Lächeln und bedankt sich im Anschluß artig beim deutschen Publikum.

Dieses bleibt etwas ratlos zurück: Das neue, ganz im Sinne Batailles „obszöne Werk“ Vladimir Sorokins geriet in Leipzig zum eher lahmen Vorspiel und löste keine orgiastischen Gefühle aus. Zu ausdruckslos und intendiert gelangweilt wirkte der Auftritt des Autors. Man muß also hoffen, daß sich wenigstens bei der Lektüre des wohl noch in diesem Jahr auf Deutsch erscheinenden Essays erotische Glücksmomente einstellen werden.

Im Original erscheint Sorokins Essay in diesen Tagen beim Verlag Ad Marginem, Moskau.

Vladimir Sorokin Der Eros von Moskau
21. März 2002, Café Küf

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