Letter from Ithaca

Unser Autor Ian Sober schweift in der Ferne

Wen die eigene Odyssee nach Ithaca, New York verschlägt, den wird wohl Cornell University angezogen haben, für die das Dreißigtausend-Einwohnerstädtchen am Cayuga Lake berühmt ist. Der Campus hoch oben auf dem Berg wird von historisierenden Altbauten geprägt, Efeu umrankt die neugotischen Gemäuer, und ein unermüdliches Glockenspiel mit einem Repertoir von Bach bis Beatles schallt vom Clock Tower über weite grüne Wiesen. Ablenkung von der Kopfarbeit ist in diesem Idyll für Akademiker keine Selbstverständlichkeit, doch kann man selbst hier in der Provinz von Upstate New York seine Entdeckungen machen.

Theater

In Downtown Ithaca gibt es das kleine engagierte Kitchen Theater (so genannt, weil die Alltagsprobleme des Durchschnittsamerikaners in der Küche diskutiert werden). Am 9. Februar konnte ich die letzte Aufführung der Romeo-und-Julia-Adaption „R&J“ von Joe Calarco verfolgen. Das vom Autor selbst inszenierte, auch in New York City ein Jahr lang off Broadway erfolgreiche Stück spielt in einem Internat, in dem die vier (männlichen) Protagonisten nachts, nach dem täglichen Drill, für sich selbst Romeo und Julia in Szene setzen. Das unbändige, energiegeladene Spiel der jugendlichen Darsteller – die also manchmal spielen, daß sie spielen, und manchmal spielen, daß sie nicht spielen – lassen den auf diese Weise gefilterten Shakespeare-Text in seiner ganzen Kraft zur Wirkung kommen. Als Ausländer versteht man leider nicht alles, doch ist es ein gelegentliches „It was the nightingale, and not the lark, / That pierc’d the fearful hollow of thine ear“, das einem Lust macht, das Original zu lesen. Die Schauspieler waren Studenten am Ithaca College, der anderen, staatlichen, Universität der Stadt, die in musischer Hinsicht Cornell zu übertreffen scheint.

Cornell selbst hat ein großes Theater zu bieten, in der Collegetown am Südcampus, mit Blick über die atemberaubende Schlucht des Cascadilla Creek (die sogar im Baedeker erwähnt ist). Dort gab’s „One flew over the Cuckoo’s nest“, nach dem Roman des im November verstorbenen Ken Kesey. Das Stück war mir aus DDR-Zeiten noch hinlänglich bekannt, doch wenn damals für uns die Regimekritik interessant war, so fiel mir diesmal auf, was daran zutiefst amerikanisch ist: Hier wird die Vitalität des Einzelnen gefeiert, das fröhliche Drauflos der Hauptfigur, die mit ihrer Energie die Verhältnisse verändert. Was in Amerika zählt, ist das Gegenteil von grüblerischer Dekadenz, die Nachkommen der Siedler schätzen eine poltrige Erfolgsmentalität.

Zum Kontrast eine Broadway-Inszenierung („Proof“ von David Auburn): New York City ist nur drei Autostunden entfernt, am Broadway werden nicht nur Musicals gezeigt, aber unter Theater scheint man etwas anderes als anderswo zu verstehen. Anstatt durch Stilisierung die Realität auf einer anderen Ebene zu suchen, möchte man das Kino an Realismus übertreffen. Ein Haus, wie es in Chicago stehen soll, wird detailgetreu aufgebaut, die sehr professionellen Schauspieler agieren wie im Film (Hauptdarstellerin Jennifer Jason Leigh ist vom Film bekannt, u.a. „Short Cuts“), das Stück, für das der Autor den Pulitzer Preis bekommen hat, besitzt zwar einen gewissen Unterhaltungswert, aber eigentlich kann man’s auch weglassen. (Es werden die üblichen Klischees von Mathematikern, Nähe von Genialität und Wahnsinn, Geschlechterkampf in der Wissenschaft bedient.) Vierzig Dollar für eine Restkarte.

In Amerika nimmt man seine Garderobe mit in den Zuschauerraum, wie im Kino, und der spannungsreiche Beginn einer Vorstellung verpufft durch die Ansage, daß fotografieren und mitschneiden nicht gestattet sind, und man möge jetzt bitte seine Handys ausschalten, und manchmal sogar, während der Vorstellung sind essen und trinken unerwünscht…

Musik

Ithaca College besitzt einen großen Konzertsaal. Das Abendkonzert am 23. Februar war lateinamerikanischer Musik gewidmet, im ersten Teil gab’s das Gesamtwerk für Sologitarre von Heitor Villa-Lobos. Eduardo Fernández‘ sensibles Spiel wurde leider empfindlich gestört durch lautes Rauschen von oben rechts, offenbar die defekte Klimaanlage. Vielleicht ist es ein Klischee, aber hierzulande scheint ein gewisser Mangel an Sinn für Details zu herrschen. Man holt sich einen der weltbesten Gitarristen in einen ausgezeichneten Konzertsaal, doch ist es offenbar kleinlich, sich um die Technik zu kümmern. Astor Piazzola und Horacio Salgán nach der Pause, diesmal lautere Instrumente, kein Rauschen also. Faszinierend der berühmte Bandoneonist Daniel Binelli, ehemals Mitglied von Astor Piazollas New Tango Sextet. Der kräftige weißhaariger Mann mit dunkler Brille scheint beim Auseinanderziehen seines Instruments eine körperliche Entspechung für die seelische Zerrissenheit der Musik aus Buenos Aires vorzuführen. (Kaum zu glauben, daß das Bandoneon als transportabler Orgelersatz gedacht war, durch die Variabilität des Luftstroms ist der Charakter ein völlig anderer, beseelter geworden.)

Nach dem Konzert dann begibt man sich auf den Weg zu seinem Auto, hier die unbedingte Voraussetzung für Unternehmungen dieser Art. Zu den Konzertkarten erhält man für gewöhnlich eine Wegbeschreibung, die freilich nicht immer ausreicht, sich in den künstlichen Neubaulandschaften der Campusse zurechtzufinden. Auf dem Hinweg wollte man uns statt zu den „concerts“ zum „kosher kitchen“ schicken, was wohl weniger dem Akzent, sondern eher dem eleganten Mantel meiner Begleitung geschuldet war. Auf dem Weg zum Auto ergießt sich der Menschenstrom in einen Turm mit Betontreppenhaus, der Fahrstuhl ist schon weg, nach vier Etagen erreicht man einen Übergang zum Parkplatz. Das seltsame Gebäude heißt Baker Walkway, wahrscheinlich hat ein Baker eine Million für seine Errichtung gespendet. An diesem Abend gab es noch eine Milonga, also einen Tanzabend für argentinischen Tango, in einem sterilen Mehrzweckraum an der Cornell University, bei der auch Daniel Binelli auftauchte.

Tango

Nach Meinung von Ezra Pound sollte Musik sich nicht zu weit vom Tanz entfernen. Davon abgesehen hat man es als Aficionado des argentinischen Tango jedenfalls leichter, in einer fremden Umgebung Fuß zu fassen und echte Einheimische kennenzulernen. Selbst eine Kleinstadt wie Ithaca bringt doch regelmäßig ungefähr zwanzig Leute auf die Beine, von denen nur ein Bruchteil mit den Universitäten zu tun hat. Ein paar begeisterte Tangueros halten die Szene am Leben, nachdem der einstige Tangolehrer nach Boston gewechselt ist. Die erste Milonga, die ich hier erleben konnte, war in einer kleinen Eckkneipe in Dowtown Ithaca. Das spärliche Kneipenpublikum am Billiard und an der Bar wundert sich regelmäßig über die zu gut gekleideten Gestalten, die sich zielstrebig auf eine unscheinbare Tür zubewegen, die auf die Treppe zur oberen Etage führt. Manchmal nehmen sie sogar so exotische Sachen wie Rotwein mit nach oben. Das ist eher die Ausnahme, im Gegensatz zum Europäer, der für seine Tanz-Inspiration halluzinogene Substanzen schätzt, kann der Amerikaner mit Inspiration sowieso nichts anfangen. Es geht um die gesellschaftliche Funktion, die Aktion beginnt um neun und endet um zwölf.

Auch an der Cornell University gibt es Orte, wo Milongas stattfinden, aber auch einen wunderschönen Übungsraum mit Spiegelwänden, der für die wöchentlichen Práctica genutzt werden kann. Er befindet sich in einem zentralen Gebäude gegenüber dem Campus Store und nahe dem Clock Tower, das für gemeinschaftliche Funktionen konzipiert ist und auch die Mensa, einen Lesesaal und das große Programmkino beherbergt.

Am 26. Februar gab es ein Tango-Konzert im schon erwähnten Konzertsaal am Ithaca College: Pablo Zieglers Quintet for New Tango spielte dem Jazz sehr nahestehende Versionen bekannter Tangos sowie einige von Ziegler. Der bestach durch seine etwas schlampige Eleganz am Klavier, der Unterschied zum Binelli-Konzert hätte nicht größer sein können (die Pianistin dort besaß eine Intensität, die Ziegler nie erreichte). Doch überzeugte das Quintett durch seine facettenreiche Klangvielfalt, die besonders bei Piazzolas „Adiós Nonino“ das Publikum begeisterte (vielleicht auch, weil es einer der wenigen Tangos war, die man in der vorgestellten Version mühelos wiedererkennen konnte). Vor dem Konzert unterhielten wir uns mit einem Uramerikaner und eingefleischtem Mitglied der Tangoszene, der beklagte, daß es in Amsterdam gute argentinische Lehrer gäbe, die sich weigerten, nach Amerika zu kommen, da die Amerikaner schlechte Schüler seien. Während des Konzerts hörten wir ihn hinter uns mit dem zusammengerollten Programmheft laut seinen eigenen Rhythmus klopfen.

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