Moskauer Nacht (Roland Leithäuser)

30. März 2002
„Moskauer Nacht“ in der Schaubühne Lindenfels:
Der Film Taiga Blues von Marianne Kapfer und Live-Musik mit Peter Bandit’s Root 66
Back in the (former) USSR !

Am Ende des Abends fühlt man sich wie nach der Lektüre des großen Russen Anton Tschechow: Nicht erleuchtet, aber zumindest erheitert, ratlos und überkommen von einem stillen Gefühl der Traurigkeit, einer Melancholie am Zustand der neuen Welt. Die alte, neue Schaubühne hat sich in den vergangenen Wochen verstärkt dem ehemaligen sozialistischen Bruderland verschrieben und präsentierte eine Reihe von Lesungen, Filmen und musikalischen Beiträgen zu diesem Thema. Im Rahmen der Buchmesse machten der allseits beliebte Wladimir Kaminer und sein Dichterkollege Alexander Ikonikow den Anfang, nun folgte ein halbdokumentarischer Film der Regisseurin Marianne Kapfer über die Irrungen und Wirrungen einer deutsch-amerikanischen Blues-Band während ihrer Tour durch Rußland.

Wie Ikonikows jüngste Prosasammlung hört auch Kapfers Film auf den Namen Taiga Blues, obwohl der Film mit einer Länge von etwas über einer Stunde ausschließlich das Treiben der Band und ihrer russischen Freunde in der Hauptstadt Moskau nachzeichnet. Nach der Premiere in der vergangenen Woche und trotz der Aussicht, die Band aus dem Film „live on stage“ bewundern zu können, verschlägt es an diesem Abend nur etwa 40 bis 50 Zuschauer in die Schaubühne. Dabei könnte doch gerade die Karwoche willkommener Anlaß für einen Abend mit Blues-Musik sein.

Als der Vorfilm schließlich läuft, macht er für einige Minuten die eigentliche Hauptveranstaltung des Abends vergessen: Sergej Luchishins Kurzfilm Porträt erzählt in achtzehn Minuten eine Parabel über das neue Rußland, seine Künstler und die repressive, geistesfeindliche Staatsgewalt. Dies alles taucht er in wunderschöne, eindringliche Bilder, die mal in Farbe, mal schwarz-weiß die Geschichte des Künstlers als gescheiterten Mannes schildern. Stationen zwischen Kindheit und Tod, welche anarchisch anmuten und trotzdem einer inneren Logik gehorchen. Man mag darüber streiten, wie gut einem solchen Film bestimmte Prädikate bekommen mögen, ein Preis in Cannes im vergangenen Jahr sollte aber in keinem Fall unerwähnt bleiben.

Marianne Kapfers Film schließt ohne Pause an diesen ersten Beitrag an, und es dauert einige Minuten, ehe sich das Publikum auf dieses völlig vom Vorfilm abweichende Sujet eingestellt hat. Bereits 1999 hat die Regisseurin unter Mitarbeit von Sergej Luchishin gedreht, doch Budgetschwierigkeiten zögerten einen Filmstart immer wieder hinaus. Taiga Blues ist einer jener moderner Musikfilme, wie sie in den vergangenen Jahren wieder an künstlerischer Bedeutung zugenommen haben, seit Wim Wenders den Buena Vista Social Club aus der Versenkung holte. Kapfer begleitete vier Tage lang die deutsch-amerikanische Band Peter Bandit’s Root 66 auf einer wahren Odyssee durch die russische Hauptstadt.

Die Musiker zeigen sich zunächst überwältigt von der Vielzahl ungewohnter Sitten und Bräuche, machen aber bereits an ihrem ersten Abend die Erfahrung, wie ausgelassen und euphorisch russische Blues-Fans sein können, und ferner, daß Wodka wirklich wie Wasser getrunken wird, in dieser wilden, hemmungslosen Metropole. Zudem haben es besonders Sänger und Leadgittarist Peter „Bandit“ Culross die schönen russischen Frauen angetan, so daß das Unheil seinen Lauf nehmen muß. Bereits am zweiten Abend begleitet die Kamera die Mitglieder der Band an jeweils verschiedenen Orten der Stadt, in einer Diskothek, bei einer Armenspeisung oder bei einer russischen Hochzeit unter freiem Himmel.

Moskau wird dabei als eigentlicher Hauptdarsteller des Films porträtiert, denn die Stadt scheint zahllose Gesichter zu besitzen, die sich den faszinierten Besuchern aus dem Westen nur allmählich erschließen. Das für den zweiten Abend geplante Konzert kommt schließlich nicht zustande, da drei Viertel der Musiker der Band einfach nicht mehr aufzufinden sind im Trubel der Großstadt. Mit wackliger Schwarz-Weiß-Kamera folgt ihnen das deutsch-russische Filmteam in die Moskauer Nacht und trifft sie (fast) alle am nächsten Morgen bei einer Militärparade zur Feier vergangener Siege eines längst untergegangenen Regimes. Lediglich Bodo Matzkeit, Schlagzeuger der Band, taucht erst gegen Ende des Films wieder auf, nachdem er sich mit Magenbeschwerden eine ganze Nacht lang unter die Armen und Bedürftigen Moskaus gemischt hatte – jeder popkulturell Vorbelastete heult an dieser Stelle des Films verzweifelt auf, denn die Reminiszenzen Kapfers an die Beatles-Filme des großen Richard Lester erreichen hier einen traurigen Höhepunkt:: wie in A Hard Day’s Night geht unfreiwillig der Drummer verloren und taucht erst wieder auf, als keiner mehr mit seiner Rückkehr rechnet.

Die wohl bewußte Entscheidung der Regisseurin, die Grenzen zwischen Dokumentation und fiktiver Handlung in ihrem Film verschwimmen zu lassen, zahlen sich nicht unbedingt aus. Die bereits erwähnte Ähnlichkeit mit Motiven aus den „Fab Four“-Filmen nehmen ihrem Film viel von seiner intendierten anarchischen Komik. So verunsichert sie das Publikum nachhaltig. Als die verbliebenen Bandmitglieder und andere Mitglieder der Gruppe im Anschluß an die Parade kurzzeitig in Haft genommen werden, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, diese Szenen seien gestellt und eben nicht wie ausdrücklich erwähnt, von einem russischen Polizisten innerhalb des Gefängnisses abgedreht worden. Damit fällt die Katharsis des Films dem Drehbuch zum Opfer. Wäre zum Schluß des Films Ringo Starr mit der Root 66 auf die Bühne gestiegen, um ihre letzte Nacht in Moskau mit einem energiegeladenen Konzert zu begehen, niemanden hätte es ernsthaft verwundert.

Das Licht geht wieder an und die Band betritt die Bühne. Gedankenverloren steht die Regisseurin am Rand der Bühne. Man möchte ihr zurufen, sie hätte es doch gut gemeint. Nicht unbedingt gut gemacht, aber gut gemeint. Ehrlicherweise muß gesagt werden, daß Taiga Blues ein lebendiges Porträt des modernen Moskau vorgelegt hat, ein Panoptikum welches Klischees bestätigt (Wodka und Borschtsch) und gleichzeitig große Themen bedient, wie wir sie aus der russischen Literatur, die einstmals zumindest eine sehr bedeutende war, kennen und verehren. Vielleicht mangelte es Marianne Kapfer an geeigneten Protagonisten für ihren Rußland-Film. Vielleicht hätte es gar kein Film über eine Blues-Band aus dem verhaßten und doch omnipräsenten Westen sein müssen, vielleicht noch nicht einmal ein Musikfilm. Peter Bandit’s Root 66 geben sich nicht wirklich Mühe, solche Kritik zu entkräften. Was im Film erdig und sexy wirkte, verkommt in der Schaubühne zum müden Gitarrengewengel. Die Band spielt lustlos ihre Interpretationen einiger Rhythm & Blues-Klassiker herunter, der Zuhörer konstatiert immerhin den hohen Wiedererkennungswert der Eigenkompositionen der Band und greift zum Glas.

Einige Mutige beginnen zu tanzen, da wird sich Peter Culross möglicherweise der Tatsache bewußt, daß es ein trauriger, besinnlicher Abend werden sollte – und verkündet nach einem ersten Set von fünf Songs die erste Pause. Wirklich traurig. Der Rezensent stellt fest, daß zumindest er jetzt den Blues hat, denkt kurz an Tschechow und macht sich auf den langen Weg nach Hause. Nicht ganz so lang wie der Weg nach Moskau, immerhin.(Roland Leithäuser)

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