„Pierrot le fou” („Elf Uhr nachts”, 1965)), Jean-Luc Godard (Ulrike Felsing)

Schaubühne Lindenfels:
04. April 2002„Pierrot le fou“ („Elf Uhr nachts“, 1965)
Jean-Luc Godard

In einem Artikel der französischen Zeitschrift „Cinema de Cahiers“ sagt Jean-Luc Godard über seine Art, Filme zu machen: „Film heißt nicht: ein Bild nach dem anderen, sondern Bild plus ein Bild, woraus ein drittes Bild entsteht. Dieses dritte Bild wird übrigens vom Zuschauer in dem Augenblick gebildet, wo er den Film sieht…“

Gewissermaßen trifft es auf die meisten Filme zu, dass sie sehr individuell gelesen werden können. Godards Filme sind jedoch so angelegt, dass es zwischen den Bildern, Sequenzen oder einzelnen Handlungsteilen inhaltliche und formale Differenzen gibt. Sie passen nicht auf die Art und Weise zusammen, wie wir es gewohnt sind. Das ermöglicht, eigene Bilder dazwischen zu montieren, gleichzeitig vergrößert sich so der (Be-)Deutungsspielraum. Ich möchte in diesem Text versuchen, Godards Mittel zu beschreiben, die dazu beitragen, dieses Bild zu evozieren.

Ein Mann (Jean Paul Belmondo) flüchtet aus seinem bürgerlichen Leben, verlässt Frau, Kind und seinen Job und beginnt mit einer Frau (Anna Karina) ein anderes, pureres Leben: eine Reise. Bevor uns der Film in diese Geschichte führt, sehen wir einige autonome Shots, die sich zunächst kaum deuten lassen. Am ehesten ist es möglich, sie an einem früheren Zeitpunkt des Filmes, quasi als Prolog des Dramas zu imaginieren.

Sie werden von einer zweiten Ebene begleitet: Einer Stimme, die einen Text über die Malerei Diego Velazqez´ ließt. Es heißt: „…er erfasste in der Welt nur noch die geheimnisvollen Veränderungen. Veränderungen die Formen und Töne einander durchdringen lassen in einem unaufhörlichen Fließen. Es ist, als ob eine Luftwelle über die Dinge gleitet…“

Immer wieder schieben sich Bilder oder Beschreibungen aus der Malerei, Fotografien, Plakate, Buchseiten und Leuchtschrift in die Geschichte und stellen Bild (Wirklichkeit) und Abbild, Realität und Traum nebeneinander. Wenn sich die Folge der Ereignisse mehr und mehr beschleunigt, die Wirklichkeit zu vielschichtig ist, fallen Ton- und Bildspur auseinander. Die Erzählung wird durch suggestive Zeichen fortgeführt, ohne dass sie noch in ihre dazugehörige filmische Atmosphäre eingebunden wären. An ihre Stelle tritt dann die rein sprachliche Beschreibung: Ferdinand und Marianne erzählen in gedrängter, lyrischer Form von dem, was passiert:

Marianne erzählt
Ferdinand
Eine Geschichte
Die sehr kompliziert ist
Mach schnell
Aus einem Alptraum aufwachen
Ich kenn ein paar Leute
Aus der Politik
Eine Organisation
Weggeh´n von hier
Waffenhandel
Heimlich. In der Stille. Elf Uhr Nachts.

Auf diese Weise werden manche Teile des Films aus einzelnen rein symbolischen Bildern zusammenmontiert, wodurch nicht nur die horizontalen Zeitlinie komprimiert erscheint, sondern gleichzeitig mehrere Sinnebenen entstehen. In den meisten Erzählungen werden zeitdehnende und mehr noch zeitraffende Elemente eingesetzt. Godard verändert zusätzlich den chronologischen Verlauf der Ereignisse. In anderen Sequenzen erfolgt die Montage (Verschiebung) quasi vertikal: Sprach- und Handlungsebene fallen auseinander. So sitzen Ferdinand und Marianne nebeneinander im Auto:

„Ich werde alles tun was du willst
Ich auch
Ich lege meine Hand auf dein Knie
Und ich meine auf deins
Ich küsse dich
Und ich dich“

Diese Sequenz erhält ihren Zauber dadurch, dass beide nicht aufhören, nach vorn durch die Windschutzscheibe des Autos zu schauen und sich die gesprochene Ebene nur in den Köpfen der Zuschauer vollzieht. Die Wirklichkeit des Films wird gebrochen, indem eine andere Wirklichkeit hinzukommt. Dem Publikum wird deutlich gemacht: das hier ist ein Film und ihr seht ihn Euch an.

Godard findet dafür mehrere Formen: Eine Szene erscheint in exakter Wiederholung, wodurch die Materialität des Films als solche in den Vordergrund tritt. (Beim Filmen wird oft der letzte Moment der vorigen Szene wiederholt, um beim Schneiden mehr Spielraum zu haben.) Gleichzeitig irritiert die Wiederholung den Zuschauer: Wäre sie wirklich, also innerhalb des Films erfolgt, so hätte sie eine bestärkende Wirkung. Auf solche Weise aber erzeugt sie eher eine Verunsicherung hinsichtlich der Wahrheit des Gesehenen.

In einem Moment, wo Ferdinand Marianne fragt, ob sie ihn jemals verlassen wird, antwortet sie: „Natürlich nicht!“ „Sicher?“ fragt er nach „Natürlich!“ Wiederholt sie. Ferdinands erste Frage und ihre Antwort sind über dem Bild eines kleinen Hausfuchses gesprochen, der zwischen ihnen auf dem Tisch liegt. Bei der Wiederholung sieht man ihr Gesicht als extremes Close-up. Ihre Augen schauen dabei erst zu Ferdinand und dann, in einem direkten Blick, zum Zuschauer.

Dieser Blick wird ein zweites Mal gezeigt. Irgendwo dort, zwischen ihm und ihr, der Kamera und dem Zuschauer, bleibt die Wahrheit ihrer Aussage. In einem früheren Moment sprach Ferdinand während einer Autofahrt das Publikum an, indem er sich kurz umschaute, sie hingegen wiederholte seinen Blick nur vage, als würde sie die Überzeugung von der Anwesenheit der Zuschauer nicht teilen.

Um Geld für ihre Reise zu verdienen, erzählen Ferdinand und Marianne den Menschen, denen sie begegnen, Geschichten. Vorher stellen sich ihre Zuhörer mit einem kurzen Lebenslauf einzeln vor und schauen dabei direkt in die Kamera: ein Mittel, das aus dem Dokumentarfilm kommt und Authentizität erzeugt. Die Geschichten der beiden und der Bericht der Leute bilden weitere Montagestücke der Realität. Der Bezug zwischen den Geschichten über das wahre Leben und der Fiktion scheint in einigen Momenten sehr klar, dann wieder wird eine völlig neue, verwirrende Ebene hinzugefügt.

Der Zuschauer wird mit Bildern purer Leichtigkeit und den darin verborgenen Rätseln konfrontiert. Marianne, Anna Karina fasziniert durch ihre manchmal kindliche Freude, ihr gehören die drei Lieder die in den Film montiert sind: „Ich fühle, dass ich lebe und nur darauf kommt es an.“

Die Form der erzählerischen Verdichtung kehrt immer wieder, scheinbar durch Kapitel strukturiert, die sich aber im Laufe des Films als zusätzliche Verwirrung herausstellen.

Kapitel Acht.
Eine Ewigkeit in der Hölle.
Kapitel Acht.
Wir zogen durch Frankreich.
Geistererscheinung.
Fata Morgana.

Wie Geistererscheinungen.
Wie eine Fata Morgana.
Ich habe das Cafe gesehen, in dem sich Van Gogh eines Tages das Ohr abgeschnitten hat.
Ist ja gar nicht wahr! Du lügst ja!
Doch ich hab´s geseh´n.

Die Musik tritt selten rein begleitend auf, sondern eher als autonomes Element, wodurch sie wie ein zusätzliches Bildmotiv, als weiteres Montageversatzstück fungiert. So z.B. als sie einen Ford Galaxi entführen: Atmosphärische Geräusche und dramatische Musik wechseln als zwei eigene Tonspuren einander ab, die Musik transportiert zusätzlich Assoziationen zu Stummfilmszenen.

Als Ferdinand und Marianne auf einer einsamen Insel landen, um wie Robinson zu leben, beginnt ein neues Kapitel der Erzählung. Doch in ihrer Beschreibung scheint sie eher rückwärts zu laufen.

Kapitel Sieben.
Ein Dichter, der wie ein Revolver heißt.
Robert Blom.
So weit weg von dir.
Niemals.
Immer lieben.
Solange ich ich bin.
Und du du bist.
Solange das Universum uns beide umfasst.
Mich der dich liebt.
Dich der mich zurückstößt.
Solange einer von uns fliehen will.
Solange der Andere ihn halten will.

Auf der Insel beginnt Ferdinand Tagebuch zu schreiben, sein Schriftbild, die Sätze, die er schreibt, bilden von nun an einen wichtigen Teil der Bildsprache. In ihnen steckt auch ein Symbol der Trennung von Marianne: Ferdinand nähert sich ihr mit Worten, sie begegnet ihm mit Gefühlen. Er ist mit seinen Gedanken, dem Schreiben und seinen Büchern beschäftigt. Als sie einander aufzählen, was sie mögen und was ihnen Freude bereitet, so sind es bei ihr Tiere, Blumen, der blaue Himmel und die Musik. Er hingegen liebt den Ehrgeiz, die Hoffnung, die Bewegung, das Veränderliche, den Zufall.

Wieder und wieder fokussiert Godard die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Differenz zwischen der Wirklichkeit und ihrer Wiedergabe, der Realität und der Fiktion, der Wahrheit und der Lüge. Die Sprache, die Malerei, die Fotografie, der Film spiegeln sie und bilden gleichzeitig eine eigene Welt. Der Zuschauer wird direkt und indirekt in den Film hineingezogen und seine eigene Sicht auf die Wirklichkeit verschiebt sich ein wenig. „Wir Menschen sind nur aus Träumen gemacht und die Träume sind umgekehrt aus uns gemacht.“

(Ulrike Felsing)

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