Reihe „50 Jahre Cahiers du cinéma” 1 (Roland Leithäuser)

Freitag, 5.4.2002
Filmvorführung in der Schaubühne anläßlich der Reihe „50 Jahre Cahiers du cinéma“
Irma Vep (F 1997) von Olivier Assayas, mit Jean-Pierre Léaud, Maggie Cheung u.a.Neues Vages

Dieser runde Geburtstag sollte angemessen begangen werden. Vor rund fünfzig Jahren erschien die erste Ausgabe der Cahiers du cinéma, konnte sich fortan zum gewichtigsten Magazin des Nachkriegsfilms nicht nur in Frankreich entwickeln. Prominente Regisseure der Nouvelle Vague wie Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Claude Chabrol und Eric Rohmer sind untrennbar mit dem Werdegang der Cahiers verbunden, ihre Aufsätze reflektierten eine neue Arbeit am Film als Kunstwerk, das fortan um wichtige gesellschaftliche Aspekte, nicht zuletzt politische, bereichert wurde.

Während die Urheber dieser „neuen Welle“ längst in die Jahre gekommen bzw. inzwischen verstorben sind, ist in Frankreich eine Generation junger Filmemacher herangewachsen, die sich deutlich von den Arbeiten der Großmeister beeinflußt zeigt und denen es dennoch gelingt, eine eigenständige Bildsprache zu entwickeln. Daß die Schaubühne in ihrer Retrospektive neben vier „Klassikern“ der obengenannten Cahiers-Begründer zudem zwei Filme der jungen Garde zeigt, hat also seinen Sinn. Neben Agnes Vardas neuem Film handelt es sich um die 1997 erschienene und seitdem mehrfach ausgezeichnete Irma Vep von Olivier Assayas, der sich auf ironische Weise und mit durchaus kritischen Anklängen der Arbeiten und Absichten des französischen Autorenfilms auseinandersetzt.

Jedoch, es fehlen an diesem Freitagabend die Gratulanten, um den ehrwürdigen Cahiers du cinéma ihre Referenz zu erweisen. Am Eingang zum Kinosaal kann wer will sogar Originalausgaben früher Ausgaben des einflußreichen Magazins durchblättern, doch als der Film schließlich beginnt, haben wohl nicht mehr als zwei Dutzend zumeist junger Besucher den Weg ins Dunkel gefunden. Das ist bedauerlich für die Organisatoren, und der Rezensent hätte gerne zum Vergleich die Veranstaltungen des Vorabends besucht, als zur prime time Godards Pierrot le fou über die Leinwand lief. Die jungen Wilden scheinen es schwer zu haben.

Dabei ist Assayas ein zeitloser Film gelungen, der schon 1997, also gut zwei Jahre vor dem Aufkommen der am Konzept der Nouvelle Vague orientierten Dogma-Filme, auf den lebendigen Geist der Handkamera setzte, die immer etwas wacklig zwar, dafür aber charmant in ihrem absichtsvollen Dilettantismus, den Filmabend zum Konditionstraining für ungeübte Seher werden läßt.

Strenggenommen erzählt Irma Vep zwei Geschichten aus der Welt des Kinos. Zum einen das Scheitern des verkopften Kinos, exemplarisch dargestellt am Zusammenbruch des ambitionierten Regisseurs René. Auf der anderen Seite beschäftigt sich Assayas´ Werk mit einem Grundproblem zeitgenössischer Kunst: dem Verschwinden der Aura angesichts der allgegenwärtigen Reproduktion des Artifiziellen, wie Walter Benjamin es mit dem Beginn der Ära des Films und der Photographie schon heraufziehen sah.

Die These des Regisseurs in Irma Vep läßt sich indes noch radikaler zusammenfassen, auch wenn der Film dabei nie anklagend, sondern stets komisch und auf Versöhnung bedacht wirkt: Das zeitgenössische Kino produziert nichts mehr, es reproduziert höchstens noch die persönliche Verzweiflung der Kunstschaffenden, der Maskenbildner, Schauspieler und Beleuchter, auf einer Bühne, vor einem gelangweilten Publikum.

Herausragendes Beispiel für diese These ist im Film der Regisseur René, trefflich dargestellt von Léaud, einem der großen Charakterdarsteller unter Godard und vor allem Truffaut, der ihm von 1959 mit „Sie küßten und sie schlugen ihn“ an zum Freund und Hausregisseur wurde. René versucht mit kleinem Budget und ohne ein rechtes Konzept, ein Remake des Stummfilmklassikers Les Vampires von Louis Feuillade aus dem Jahr 1915 zu drehen. Klare Vorstellungen scheint der Regisseur, dessen Karriere ohnehin ihrem Ende entgegengeht, nur davon zu haben, wie der Film am Ende auf sein Publikum wirken soll: Er möchte nicht einfach ein Remake drehen, sondern die Magie des Stummfilms aus dem Geiste des modernen Actionfilms neu beschwören.

Dazu wird aus Hongkong Schauspielerin Maggie Cheung eingeflogen, die dem Zuschauer als sehr wandlungsfähige Actrice bekannt sein dürfte, die sowohl in den Martial-Arts-Machwerken eines Jackie Chan als auch bei Wong Kar Wei, dem Protagonisten des neuen asiatischen Autorenkinos, in verschiedensten Rollen anzutreffen war. Sie spielt sich im Film selbst und ist für die Rolle der Irma Vep vorgesehen, einer verführerischen Tänzerin und Kriminellen, die mehr als Vamp denn als eigentlicher Vampir ihre Rolle im Film ausfüllen soll.

Maggie Cheung, mit dem französischen Film gänzlich unvertraut, fügt sich mit Leichtigkeit in die ihr zugedachte Rolle, stellt aber im Lauf der Dreharbeiten befremdet fest, daß Renés Projekt zum Scheitern verurteilt ist. Drehzeiten werden nicht eingehalten, Kompetenzgerangel lähmt das Voranscheiten der Dreharbeiten, die Kostümbildnerin macht Maggie eindeutige sexuelle Avancen, und zu guter Letzt scheint auch René dem Streß nicht mehr gewachsen zu sein: Bei einer ersten Probevorführung kommt es zum Eklat mit der Produktionsleitung, da der Regisseur den Film als leblos und künstlerisch wertlos abqualifiziert; wenig später erleidet er einen Nervenzusammenbruch und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

Maggie empfindet stilles Mitgefühl mit dem Gescheiterten, reist aber dennoch vor dem offiziellen Ende der Dreharbeiten gen Hollywood ab, um, zynischer Höhepunkt und Schlußakt des Films, eine Rolle im neuen Film von Ridley Scott anzunehmen, was die französische Crew teils neidisch, teils wütend ob dieses Verrats, zur Kenntnis nehmen muß.

Geradlinig und aus der Perspektive eines an den Dreharbeiten Beteiligten erzählt und begleitet Assayas die Handelnden und konstatiert in kontrastreichen, stets etwas verschwommen wirkenden Bildern eine Geschichte vom Scheitern. Vorzugsweise erzählt er von Maggie, die zwischen Belustigung und Kopfschütteln, aber stets professionell, ihre Rolle zu erfüllen versucht, und der die Gewöhnung an die europäischen Umstände weitaus mehr Schwierigkeiten bereiten als ihre eigentliche Rolle. In einem konstruierten Interview gibt sie sich Mühe, die Arbeit Renés zu loben, während ein aggressiver Filmjournalist sie vehement vom Tod des Autorenkinos zu überzeugen versucht.

Dem Zuschauer drängt sich die Frage auf, was Assayas mit seinem Film zu eruieren versucht. Sicherlich ist Irma Vep nicht explizit als eine Reminiszenz an die Nouvelle Vague zu verstehen, viel eher schon als ein Abgesang auf ihre ehemaligen Tugenden. „Boring“ sei der französische Film seit jeher, versucht der Interviewer Maggie zu belehren, keinerlei Handlung, „Action“, sei in ihm mehr auszumachen. Überspitzt und krampfhaft suggestiv wirkt an dieser Stelle des Films der Vergleich mit den Blockbustern Hollywoods, doch ein wunder Punkt ist insofern getroffen, als es dem französischen Film nicht einmal mehr gelinge, gute Handlungen cineastisch wertvoll umzusetzen.

Nie wirkt die Kritik am französischen Nachkriegsfilm plakativer als in dieser Szene, während sie an anderer Stelle, in die Handlung des Films eingearbeitet, viel eher den eigentlichen Punkt trifft: Am Ende eines langen Drehtages trifft sich das Filmteam mit alten Freunden zu einer kleinen Party, in deren Rahmen Maggie Cheung mit zwei ehemaligen Regisseuren, „Politfilmern“, bekannt gemacht wird, deren revolutionäre filmische Ausbrüche auf einem Fernsehbildschirm im Hintergrund zu sehen sind und dann kurz in die Totale gerückt werden. Verschroben und unfreiwillig komisch gerieren sich die ehemaligen Filmschaffenden, die Assayas‘ fleischgewordene Allegorie der Verfehlungen seiner cinematographischen Vorbilder sind: Die vor allem von Godard ab Ende der Sechziger Jahre propagierte Politisierung seiner Filme zog fast zur Gänze den Verzicht seiner vormals eleganten Bildsprache mit sich, Plakate ersetzten plots, Anarchie entledigte sich der Ästhetik. Die Nouvelle Vague hatte ein jähes Ende gefunden, Godard selbst brauchte lange Zeit, bis ihm wieder ein anständiger Film gelang.

Die Kritik des Nachgeborenen an dieser Stelle ist berechtigt und greift doch zu kurz. Der Film im Film ist eine Farce im bestgemeinten Sinne. Doch all die scheinbar intellektuellen Diskussionen, die Idiosynkrasien des Regisseurs, die gebrochenen Biographien, die das eigentliche filmische Werk fortwährend überlagern ? all diesen Einwänden am modernen Autorenfilm entkommt auch Irma Vep nicht. Zu holzschnittartig zeichnet er die Stereotypen des Filmbetriebs, von denen einzig und allein Maggie Cheung ein Eigenleben zu besitzen scheint. Daß Assayas‘ Film am Schluß nicht als „völlig überflüssig“ erscheint, wie es der weiblichen Begleitung des Rezensenten nach dem Verlassen der Schaubühne ernüchtert entfährt, liegt ausschließlich an der Präsenz Maggie Cheungs. Sie besitzt die Aura, die dem high-brow-Kino der Moderne zunehmend abgeht. Doch allein ihr auratisches Spiel verleiht dem Film nicht die Tiefe, die er offenkundig anstrebt.

(Roland Leithäuser)

Weitere Vorführungen am 8. April (20.00 Uhr) und am 10. April (21.00 Uhr). Die Reihe wird fortgesetzt bis zum 10. April, u.a. mit Godards „Pierrot le fou“

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