Beklemmende Fakten in der Fiktion

Aleksandar Tisma liest aus seinem Erzählungsband „Ohne einen Schrei“

Der aus der multiethnischen Stadt Novi Sad stammende Aleksandar Tisma hat vor allem durch seine Romane Der Gebrauch des Menschen, Das Buch Blam und seinen Erzählungsband Die Schule der Gottlosigkeit einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt, der über Jugoslawien weit hinausreicht. In Leipzig wurde Tisma 1996 mit dem Leipziger Buchpreis für Völkerverständigung ausgezeichnet, weil er in diesen Werken in unvergleichlicher Weise die Grausamkeiten des II. Weltkrieges verbildlicht hat: Indem bestialische Taten von gewöhnlichen Menschen psychologisch akribisch motiviert werden, wird in einem ersten Schritt Verständnis für die Unmenschlichkeit des Menschen geweckt. In einem zweiten Schritt wird diese Unmenschlichkeit durch einen hohen Grad an Faktographie aus dem Fiktiven ins Reale gerückt, wird somit zum Schrecken des Rezipienten.

Dieses Erzählverfahren hat Tisma bereits in seinem früher entstandenen, jedoch weniger bekannten Erzählungsband Gewalt (Nasilje, bereits 1965 in Jugoslawien herausgegeben) angewandt, aus dem ausgewählte Erzählungen in dem in Deutschland erst 2001 herausgegebenen Band Ohne einen Schrei veröffentlicht wurden. Gerichtsakten zu Gewaltdelikten dienten als stoffliche Grundlage für das jeweilige Sujet, berichtete Tisma nach der Lesung. So basiert die vom Autoren selbst auf deutsch vorgetragene Erzählung Ein Musterbild der Liebe auf der Klage einer alleinstehenden Frau, die ihren Liebhaber beschuldigt, sie geschlagen, beraubt und sexuell mißbraucht zu haben.

Die Erzählung wird durch einen allwissenden Erzähler aus der Perspektive der Wirtin aufgenommen, die ihre 32-jährige Untermieterin Branka nach der Tat entdeckt und ins Krankenhaus bringt, wo die Verletzungen der Geschädigten in einem Krankenbericht protokolliert werden, um sie der späteren Anzeige als Beweismaterial zuzufügen. Von nun an wird die Perspektive des allwissenden Erzählers immer wieder durchbrochen von der direkten oder indirekten Wiedergabe der polizeilichen und gerichtlichen Protokolle bezüglich des Tathergangs, in denen „sich die Lüge gleich zu Beginn der Ermittlungen zeigte“. Die Verquickung dieser Erzählperspektiven erzeugt ein hohes Maß an Spannung: Während die Wirtin und Branka aussagen, daß der zum Alkohol neigende und ungehobelte Nika die junge Frau geschlagen, beraubt und mißhandelt habe, gibt Nika in seiner Aussage zwar zu, daß er geschlagen und geraubt habe, gibt jedoch an, daß Branka aus freien Stücken danach die Nacht noch bei ihm verbracht habe.

Der sich in den Protokollen zeigende Widerspruch wird durch den allwissenden Erzähler gelöst: Die ordentliche Branka sucht immer wieder die Begegnung zu dem liederlichen Nikola, um „aus dem Alltäglichen in die Sphäre der Gefühle, eine Sphäre, die allumfassend ist, jenseits von Zeit und Raum, vollkommen“ zu fliehen. Das zum Teil erniedrigende Beisammensein mit Nika ist für sie zum „Ideal der Liebe“ geworden, das wiederum der Anlaß ist, trotz Nikas Brutalität bei ihm zu bleiben. Erst das Öffentlichwerden ihrer Demütigungen zwingt Branka, ihren Geliebten für die erlittene Schmach anzuzeigen.

Der Protokollstil bzw. die Faktographie dient auch hier der Situierung des Erzählten im Bereich der Realität. Die Realitätsbezogenheit mag auch der Grund sein für die nach der Lesung entstandene Diskussion, ob diese Erzählung als Metapher für ein mögliches Zusammenleben der verfeindeten Balkanvölker fungiert. Der Autor äußerte dazu, daß er hier ein Phänomen literarisch verarbeitet hatte, das man auch nach Kriegen beobachten kann: Die vielseitigen Verbindungen zwischen den Menschen führen dazu, daß man selbst nach brutalen Ereignissen wieder aufeinander zugeht. Er wies darauf hin, daß Gewalt generell nur in Verbindung mit Macht entstehe. Das Streben nach Macht, ihr Erhalt und ihre Ausweitung berge in sich ein nicht hoch genug einzuschätzendes Potential an Gewalt, das in kriegerische Auseinandersetzungen münden könne.

Tismas Lesung und Äußerungen sind mit regem Interesse im vollen Saal aufgenommen und verfolgt worden. Seitens des Veranstalters wären eine detailliertere Einführung zum Literaten und zur Diskussion anregende Fragen als Abrundung des Abends wünschenswert gewesen. Diese Aufgaben hat Herr Tisma selbst exzellent übernommen.

Aleksandar Tisma Ohne einen Schrei
16. April 2002, Haus des Buches

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